Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Sünder - Tales of Sin and Madness (German Edition)

Die Sünder - Tales of Sin and Madness (German Edition)

Titel: Die Sünder - Tales of Sin and Madness (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brett McBean
Vom Netzwerk:
Little Lon keine Sperrstunde kennt. Laut einem Mann, der regelmäßig im Black Eagle Hotel in der Lonsdale Street verkehrt, wimmelt es in diesem kleinen Viertel ständig von Menschen. Dabei besteht kein Unterschied zwischen zehn Uhr morgens und drei Uhr nachts. Ein leichtes Mädchen, dem ich zufällig begegne, bestätigt das: Hier sind überall Menschen, zu jeder Tages- und Nachtzeit. Es herrscht ein ständiges Kommen und Gehen. Und dennoch will den Mord an Doyle niemand gesehen oder gehört haben.
    Es stimmt, dass Castletown Place eine besonders finstere Gasse ist, in der ungefähr auf halber Strecke eine einsame Gaslaterne steht, was große Teile des Weges unbeleuchtet lässt. Aber dennoch kann ich in dieser kühlen Frühlingsnacht ständig Menschen auf der Little Lonsdale Street vorbeischlendern sehen. Es vergehen selten mehr als zehn Minuten, bis mir jemand in der Gasse begegnet – entweder befindet er sich auf dem Weg von der Arbeit oder zur Arbeit oder er nutzt die Gasse für geschäftliche Zwecke. Es ist schwer vorstellbar, dass hier jemand eine Frau ermorden und aufschlitzen kann, ohne dabei auf frischer Tat ertappt zu werden.
    Aber genau das ist in Castletown Place passiert.
    Und genau das ist in der letzten Woche beim zweiten Melbourner Prostituiertenmord wieder passiert.
    Er wurde nur eine Meile von Castletown Place entfernt verübt – in einer anderen Gasse im Norden von Little Lonsdale, verborgen zwischen den engen Häusern und dem Schmutz dieses Elendsviertels.
    Cumberland Place ist die längste Hauptstraße in einem aus sechs Blocks bestehenden Raster. Und sie gehört zu den breiter angelegten Verkehrswegen in Little Lon. Hier wohnen Familien aus Irland, China und Osteuropa. Barfüßige Kinder rennen kreischend und lachend durch die verwinkelten Gassen und sind ebenso dreckig wie die Straße selbst. Pferdemist türmt sich neben Müll und Abfall auf. In den Hinterhöfen und oft sogar in den kleinen Vorgärten der Häuser stehen schwer beladene Wäscheleinen. Trotzdem sich die Einwohner alle Mühe geben, ihre Häuser sauber zu halten, sind es doch nicht viel mehr als heruntergekommene Baracken, die aussehen, als würden sie schon beim kleinsten Windstoß in sich zusammenfallen.
    Während ich an der Ecke Cumberland und McCormack Place stehe und die kühle Morgenluft allmählich einem hellen, ungewöhnlich warmen Septembertag Platz macht, stelle ich mir die Frage, warum der Mörder ausgerechnet hierher gekommen ist, mitten ins Herz dieses Labyrinths namens Little Lon. Das nächste Bordell liegt mehrere Straßen entfernt und selbst wenn in der Nachbarschaft mehrere Kneipen zu finden sind, empfinde ich sie längst nicht als so verrucht wie jene auf den wichtigsten Hauptschlagadern, beispielsweise der Lonsdale Street. Und dennoch wurde hier irgendwann in den frühen Morgenstunden des 8. dieses Monats eine Frau auf brutale Weise im Hinterhof des Eckhauses in Cumberland Place abgeschlachtet. Wie schon bei dem eine Woche zuvor begangenen Mord und bei den Taten in Whitechapel hat niemand etwas gesehen oder gehört – obwohl zur Tatzeit eine fünfköpfige Familie in dem betreffenden Haus schlief.
    Eine der Bewohnerinnen führt mich in den Hinterhof des grünen Holzhauses, eine Dame namens Joyce Snell. Der Hof ist von der Straße aus über eine Seitentür zugänglich, die laut Mrs. Snell niemals abgeschlossen ist. »Hier in der Nachbarschaft schließt niemand seine Türen ab«, erklärt sie. »Hier kennt jeder jeden, hier herrscht immer ein Kommen und Gehen, Tag und Nacht. Man braucht keinen Schlüssel, wenn man in den Hinterhof möchte. Jeder kann die Tür einfach aufmachen und reingehen.«
    Der Hinterhof selbst ist, wie viele andere in dieser Gegend, winzig. Abgesehen von einer Toilette in der hinteren Ecke und einem Tisch, der an der Wand steht, hat er nicht viel zu bieten. Ein Pfad aus Pflastersteinen führt von der Hintertreppe zu dem kleinen Toilettenhäuschen. Mrs. Snell zeigt mir die Stelle, an der die Frau umgebracht wurde.
    »Mein ältester Sohn hat die Leiche gefunden«, berichtet Mrs. Snell und ihre Stimme zittert. Ganz offensichtlich steht sie immer noch unter Schock. »Er ist gegen sechs Uhr morgens nach draußen gegangen und hat an der hinteren Mauer irgendetwas auf dem Boden liegen sehen.«
    Mrs. Snell deutet auf eine Stelle aus zerbröckeltem Beton in der Nähe der Steinmauer, die an Providence Place grenzt, eine Parallelgasse zum Cumberland Place. Auf der Mauer, zwischen den Rissen, sind noch

Weitere Kostenlose Bücher