Die Sünder - Tales of Sin and Madness (German Edition)
in der Wall Street. Ich hab eine, na, sagen wir mal, harte Nacht hinter mir …«
Ein paar harte Monate trifft es wohl eher.
»… ich muss da draußen in der Gasse eingeschlafen sein. Also, ich habe zwar keine Ahnung, was ihr hier treibt, obwohl ich sicher bin, dass es ganz großartig und wahnsinnig wichtig ist. Aber ich fühle mich beschissen und will nur noch nach Hause, mir die Seele aus dem Leib kotzen und schlafen. Okay?«
Der Erlöser sah ihn mit intensivem, durchdringendem Blick an. Er stank widerlich – nach einer Mischung aus Müll, Urin und Alkohol – und als er seinen Mund öffnete, um zu sprechen, wich Aleister reflexartig einen Schritt zurück.
Mein Gott! Der Gestank, der aus seinem Rachen kam, war nicht von dieser Welt.
»Er hat zu mir gesprochen und mir gesagt, ich solle sechs Menschen finden«, verkündete der Mann mit sanfter Stimme. »Sechs Menschen, die vom Zorn des Allmächtigen verschont bleiben werden. Er hat mir gesagt, ich würde sie erkennen, und tatsächlich habe ich sie alle gefunden, bis auf einen. Bis jetzt. Sie sind der Letzte, Mr. Donaldson. Ich bin Ihr Erlöser und Sie werden hierbleiben und tun, was ich Ihnen sage.«
»Hey, willst du damit behaupten …?«
Der Erlöser nickte. Dann pflückte er etwas, das aussah wie eine Bohne, aus seinem zerzausten Bart, und warf sich den Brocken in den Mund. »Setzen Sie sich.«
Tagsüber war Aleister ein einflussreicher Broker, jemand, der wusste, was es bedeutete, an der Spitze zu stehen – und der auch ganz genau wusste, wie man sich oben hielt. Er war gut darin, Befehle zu keifen und andere dazu zu bringen, ihm die Scheiße von seinem Arsch abzuwischen. Warum also, in Gottes Namen, ließ er zu, dass ihn irgendein alter Penner zu einer leeren Kiste führte? Warum saß er neben einem stinkenden Müllschlucker, der aussah wie Abraham Lincolns Großvater?
Entweder träume ich immer noch oder ich bin vollkommen durchgedreht.
Nein, ich werde mich nur eine Weile ausruhen, ausnüchtern und dann verdammt noch mal von hier verschwinden. Was soll schon passieren? Verflucht, vielleicht wird das hier ja sogar ganz lustig. Dann habe ich am Montag im Büro eine gute Geschichte zu erzählen.
Aleister drehte sich zu dem Penner um, der neben ihm saß. Der schlaksige alte Kauz wandte sich ihm zu, furzte und streckte ihm die Hand hin. »Hi, Boss. Ich bin Jack.« Seine kalten Augen ruhten ganz tief in seinem furchtbar dünnen, schmutzigen Gesicht.
Aleister lehnte den Händedruck ab. Er mochte vielleicht ein riesiges Arschloch sein, das seine Frau betrog, aber er war kein kranker Säufer. »Nett, dich kennenzulernen, Jack. Ich bin Millionen wert.«
Jack runzelte die Stirn und zog seine Hand zurück.
»Hast du auch ’nen Nachnamen, Jack?«
Jack lächelte, aber es war kein schöner Anblick. »Sicher hab ich den. The Ripper.«
Es dauerte einen Augenblick, bis Aleister es kapierte. Er nickte. »Klar. Okay. Schlitz mir aber bloß nicht die Kehle auf.«
»Warum sollte ich das tun?«, fragte Jack und legte erneut seine Stirn in Falten.
»Vergiss es«, antwortete Aleister.
»Ich würde sagen, wir fangen dann mal mit der Versammlung an«, warf einer der Penner ein, die bisher noch nichts gesagt hatten. »Die Verhandlung hat begonnen.«
»Ich seh gar keinen Richter oder Gerichtsdiener«, scherzte Aleister.
Der Mann drehte sich um und sah Aleister an. Er wirkte ein wenig jünger als die anderen und hatte einen strengen Gesichtsausdruck. »Dann sind Sie ein Idiot, mein Herr. Der Erlöser ist der Richter und wir anderen sind die Gerichtsdiener.«
Der Mann hatte irgendetwas Vertrautes an sich …
»Und wer ist der Angeklagte?«, erkundigte Aleister sich.
»Die Welt, natürlich.«
»Anwälte?«
»Wir sind sowohl Gerichtsdiener als auch Anwälte.«
»Beeindruckend«, erwiderte Aleister, während er durch den Sumpf seines Gedächtnisses watete und versuchte, sich daran zu erinnern, wo er diesen Mann schon einmal gesehen hatte.
»Richter Stevens, bitte drehen Sie sich wieder um. Wir haben Wichtiges zu besprechen.«
»Heilige Scheiße!«, entfuhr es Aleister. »Sie sind Richter Henry Stevens? Derselbe Richter Stevens, der vor 15 Jahren diesen Schauspieler verurteilt hat? Wie hieß der noch gleich …?«
»Bruce Harris«, antwortete Richter Stevens mit einem Kopfnicken. »Ja, ich glaube, das war ich.« Er wirkte beinahe stolz, weil ihn jemand erkannt hatte.
Aleister erinnerte sich an einen stattlichen, makellos gekleideten Mann mit sanftem Gesicht und
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