Die Sünderin von Siena
lieben, das weißt du doch?«
»Ja, padre «, flüsterte der Junge.
»Knie nieder!«
Giovanni gehorchte. Der Steinboden, ideal für die heißen Monate, die bereits eingesetzt hatten, war kühl, aber sehr schmutzig. Überhaupt hing im ganzen Raum ein strenger Geruch, der Giovanni zunächst gar nicht aufgefallen war.
»Schließ die Augen!«, hörte er den Prediger sagen.
Wollte der padre , dass er sich ganz auf seine Reue konzentrierte? Aber wie konnte er das, wenn doch so unterschiedliche Gefühle in ihm stritten?
Giovanni hörte, wie Bernardo im Zimmer umherging, irgendetwas gerade rückte. Dann Rascheln und ein dumpfes Geräusch, das er nicht einordnen konnte. Der Geruch wurde intensiver, fast unerträglich.
»Streichle mich! Küsse mich!«
Im ersten Augenblick glaubte Giovanni, sich verhört zu haben. Solche Worte konnten nur seiner überhitzten Fantasie entsprungen sein, und genau deswegen war er ja hier. Er schüttelte den Kopf, um zur Besinnung zu kom men. Seine Seele bedurfte der Läuterung. Aber vielleicht war ja noch nicht alles zu spät.
»Küsse mich!«, verlangte der Prediger. »Streichle mich! Sage: ›Ich liebe dich‹! Oder liebst du deinen Vater nicht?«
Giovanni öffnete die Augen. Bernardo hatte seine Kutte mit einem Strick hochgebunden. Darunter war er nackt – und mehr als erwartungsvoll, wie der Junge in tödlichem Erschrecken erkannte. Das bräunliche Glied war bereits leicht aufgerichtet. Es gab keinen Zweifel, was der Prediger von ihm erwartete.
»›Ich liebe dich‹ – worauf wartest du noch?« Jetzt klang die Stimme strenger. »Sag es endlich!«
»Aber das ist doch … die schlimmste aller Todsünden!«, flüsterte Giovanni. »Die Sünde gegen die Natur, wie Ihr sie genannt habt, und so widerlich und abscheulich, dass alle Geschöpfe sich in Grausen …«
»Den Vater zu lieben?«, unterbrach ihn Bernardo. »Hast du den Verstand verloren, mein Sohn? Das ist keine Sünde, sondern deine Pflicht und Schuldigkeit.«
Der Junge war aufgesprungen. Alles in ihm war in hellstem Aufruhr. Das würde er nicht tun – nicht mit ihm. Niemals!
»Aber die Predigten!«, rief er und wich schrittweise zurück. »All das, was Ihr immer gesagt habt über die Hölle und die ewige Verdammnis … Über Siena und Sodom. Über diejenigen, für die es keine Gnade gibt vor dem Angesicht des Allmächtigen Vaters!«
Die Augen des Predigers brannten. »Ich bin der Einzige, der Gottes reines Wort auf dieser sündigen Welt verkündigt – und ihr alle seid meine Söhne. Den Vater liebt man. Liebe mich, mein Sohn, liebe mich!« Er kam näher, mit einem lüsternen Lächeln, das dem Jungen noch um vieles schrecklicher erschien als all das Drohen zuvor.
Giovanni war mit dem Rücken an der Wand angelangt. Was würde jetzt geschehen? Würde der padre ihm Gewalt antun?
»Ich hätte mich früher um dich kümmern sollen«, sagte Bernardo, inzwischen so nah, dass der Junge jede einzelne Pore erkennen konnte. Die Zähne gelb wie die von Pferden. Der Atem säuerlich. Allein die Vorstellung, ihn im nächsten Augenblick küssen zu müssen, war mehr als unerträglich. »Dann wüsstest du bereits, wie schön die Liebe des Vaters sein kann.«
Er streckte die Hand nach Giovanni aus, griff nach dessen Kutte, die so mürbe vom ständigen Tragen war, dass sie zerriss, als der Junge zur Seite sprang. Mit einem weiteren Satz war Giovanni an der Tür und rannte hinaus. Die Treppe nahm er fast im Flug, die letzten Stufen übersprang er und kam beidbeinig unten auf.
Er raste durch den Innenhof, wo in einer Ecke bereits die Vorbereitungen für den nächsten Faustkampf getroffen wurden, und langte dann am großen Tor an. Er schob den schweren Riegel zurück, riss sich dabei die Haut am Handgelenk auf und spürte es kaum, obwohl es heftig zu bluten begann. Endlich erreichte er die Straße.
Weiter lief er, immer weiter, vorbei an der Basilika San Francesco, die Gassen entlang, quer über die kleinen Plätze, ohne ein einziges Mal innezuhalten oder nach links und rechts zu schauen, bis endlich, endlich jenes Haus in Sicht kam, das ihm nun als einziger Schutz erschien.
Keuchend ließ er den Türklopfer gegen das Holz donnern. Nun sah er sich immer wieder um. Kamen sie schon, um ihn zu holen? Aber dann müssten sie ihn töten, denn lebendig ließe er sich nicht mehr an jenen Ort zurückschleppen!
Eine junge Dienerin öffnete ihm und riss erschrocken den Mund auf, als sie ihn in seinem ungewohnten Aufzug erkannte. Er schob sie
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