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Die Sünderin von Siena

Die Sünderin von Siena

Titel: Die Sünderin von Siena Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brigitte Riebe
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und noch immer nicht viel mehr als ein Haufen hautbedeckter Knochen, obwohl er doch so gerne aß und selbst nach den größten Portionen niemals richtig satt zu sein schien. Anfangs war Bartolo insgeheim enttäuscht gewesen, wie klein und schmächtig Mario war, denn er hatte sich in all den Jahren, da er auf seine Ankunft gewartet hatte, eher einen jugendlichen Adonis zusammenfantasiert, mit breitem Kreuz und kräftigen Armen, schon fast an der Schwelle zum Mann.
    Mittlerweile jedoch mochte er ihn genau so, wie er war. Obwohl er nicht viel sagte, schien Mario alles zu verstehen, was er hörte, und rasch dazu, das sah man an seinen großen, lebendigen Augen und der hohen Stirn, die sich bisweilen grüblerisch in Falten legte.
    »Bin ich dir zu schnell?«, fragte Bartolo auch jetzt. »Ich weiß – die alte, neue Sprache, aber du kapierst so gut, und ich vergesse manchmal fast, dass du eigentlich ein kleiner tedesco bist. Hat Alba immer Italienisch mit dir und deiner Schwester gesprochen?«
    »Mamma ist lange tot.« Die spitzen Schultern in der neuen roten Schecke, die ihm noch etwas zu groß war, schienen noch tiefer zu sinken. »Und ich hab leider vieles vergessen.«
    »Stimmt ja gar nicht! Und das Wenige, das vielleicht doch ein bisschen nach unten gesackt ist, werden wir gemeinsam ganz schnell wieder heben, nicht wahr, mein Junge?«
    Warum sah Mario jetzt schon wieder so traurig drein? Weil er Alba erwähnt hatte? Oder weil den Jungen das Heimweh nach seiner Schwester Maria plagte?
    Sie sind wie Zwillinge , hatte die Nichte in einem ihrer ersten Briefe Bartolo wissen lassen, damals, als sie endlich wieder begannen, miteinander in Kontakt zu treten, entschlossen, das schlimme Zerwürfnis zu beenden, das die Familie so lange entzweit hatte . Behutsam näherten sie sich einander an, bedacht darauf, den dünnen Faden des Verstehens nicht gleich wieder reißen zu lassen.
    Obwohl sie altersmäßig ein gutes Jahr voneinander getrennt sind. Beide mit den Füßen voran geboren, was mir zweimal hölli sche Schmerzen bereitet hat. Doch wenn sie dann erst einmal in deinem Arm liegen, hast du alles bereits wieder vergessen. Die bei den sind sich sehr ähnlich und hängen derart aneinander, dass man fast glauben könnte, sie seien tatsächlich aus einem Ei geschlüpft. Niemals siehst du einen von ihnen lange allein. Taucht irgendwo Mario auf, kannst du sicher sein, dass im nächsten Moment auch Maria angetrabt kommt. Für mich sind sie ein Doppelgestirn, und ich liebe meine beiden kleinen Himmelskörper aus Fleisch und Blut von ganzem Herzen …
    Er hatte nicht glauben können, dass Alba tot war, verblutet bei der Geburt ihres dritten Kindes, das ebenfalls nicht überlebt hatte. Doch nicht seine heitere, stets schlagfertige Nichte, die im Rausch der ersten Liebe vor sechzehn Jahren mit jenem blonden Augsburger Kaufmann fortgelaufen war!
    Seine Schwester Tizia war darüber vor Kummer gestorben, die ganze Familie außer sich vor Sorge und Zorn gewesen. Noch heute hegte er äußerst zwiespältige Gefühle gegenüber jenem Mann, der diesen unfassbaren Schmerz über sie alle gebracht hatte. Ob Alba es wenigstens gut bei Ulrich Lauinger gehabt hatte, in den wenigen Jahren, die den beiden miteinander vergönnt gewesen waren?
    »Soll ich weiterrechnen?« Marios helle Stimme holte Bartolo aus seinen Grübeleien. Der Junge überraschte ihn nicht zum ersten Mal. Das meiste, was er ihm voller Stolz gezeigt hatte, schien ihn zunächst eher kalt zu lassen: der Markt, der Laden, die Stoffe, Scheren und Leitern. Fast hatte Bartolo schon geglaubt, sich mit der Auswahl des neuen Lehrlings gründlich vertan zu haben, da hatte Mario den Abakus entdeckt und freudig zu strahlen begonnen.
    »Soll ich nun, oder soll ich lieber nicht?«
    Er war schon wieder abgeschweift! Aber seit Mario bei ihnen lebte, gingen seine Gedanken oft auf Reisen.
    »Bist du denn noch immer nicht müde?«, fragte Bartolo. »Du hockst jetzt schon so lange über den Papieren!«
    »Zahlen liebe ich«, sagte Mario mit einem winzigen Lächeln. »Sie sind klar. Man kann sich immer auf sie verlassen. Und sie bedeuten stets dasselbe. Das gefällt mir.«
    So viele Worte am Stück hatte er bislang noch nicht von sich gegeben. Bartolos Brust weitete sich vor Entzücken.
    Aber sie stehen nur für etwas, wollte er gerade erklären, sind nur Symbole, als die Ladentüre aufging und Lupo di Cecco eintrat.
    »Ist er das?«, fragte der Besucher mit angestrengtem Lächeln in Marios

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