Die Sünderin
nach Pappe. Mit dem Joghurt stellte sie sich an das vergitterte Fenster, schaute den Himmel an und fragte sich, wo die Leute aus den anderen Betten zu Mittag aßen. Ob man sie für so gefährlich hielt, dass sie nicht zusammen mit den anderen essen durfte. Ob es überhaupt Leute gab oder ob die benutzten Betten sie nur vortäuschen sollten. Vielleicht war das ein Test, um festzustellen, wie viel von ihrem Verstand noch übrig war. Vielleicht wollte der Professor sie beim nächsten Gespräch fragen, wie sie mit den Leuten im Zimmer zurechtkäme?
Sie dachte eine Weile nach, welche Antwort sie ihm geben könnte. Dann überlegte sie die Sache mit Frankie als Kunden gründlich. Wenn der Professor nicht von allein auf den Gedanken kam, musste sie ihn mit der Nase darauf stoßen.
Zuletzt fragte sie sich, ob Magdalena erleichtert gewesen war, als sie oben ankam und feststellen musste, dass Mutter noch nicht da war. Ob Magdalena seitdem unentwegt heilig, heilig, heilig rief und sich dabei langweilte. Oder ob sie in einer stillen Ecke dem Erlöser gegenübersaß. Von Angesicht zu Angesicht. Irgendwann hatte Magdalena auf ein Bild in der Bibel gezeigt und gesagt: «Stell ihn dir mit einem vernünftigen Haarschnitt und glatt rasiert vor. Dann sieht der Typ nicht übel aus.»
Frankie hatte auch nicht übel ausgesehen. Ein hübsches Gesicht hatte er gehabt, männlich, aber hübsch. Sie dürften ihr kaum glauben, wenn sie behauptete, er sei ein Kunde gewesen. So einer hatte es nicht nötig, zu einer Hure zu gehen. So einer war auch nicht pervers.
Sie sah ihn noch deutlich vor sich – ohne Blut. Dieser eine Moment, als er sich aufrichtete und gegen das Lied protestierte. Vielleicht hatte es ihn ebenso gequält, wie es sie gequälthatte. Vielleicht war er dankbar gewesen, als sie ihn von seiner Qual erlöste. Wie er sie angeschaut hatte …
Bis kurz nach zwei stand sie am Fenster. Stand nur da und war glücklich, dass man sie nicht wieder ans Bett gebunden hatte. Das Tablett wurde abgeholt. Es gab eine Rüge, weil sie das Gemüseeinerlei und das Fleisch nicht angerührt hatte. Sie lächelte zur Entschuldigung und zeigte auf ihre Kehle. «Es tut noch weh beim Schlucken. Aber das Joghurt habe ich aufgegessen. Und wenn es morgen Suppe gibt, esse ich bestimmt zwei Portionen.» Dann war sie wieder allein.
Zweimal hörte sie hinter sich ein Geräusch an der Tür. Sie drehte sich nicht um, wusste auch so, was das Geräusch verursachte. Ein wachsames Auge. Kurz nach zwei war es dann ein Schlüssel. Sie dachte an Kaffee und ein Stück von dem trockenen Kuchen aus dem Dürener Krankenhaus, wo sie nach der Geburt des Kindes eine kurze Zeit verbracht hatte. Dort hatten sie den Nachmittagskaffee immer zu Mittag serviert – und am Nachmittag das Abendessen, weil sie Feierabend haben wollten.
Die Tür wurde geöffnet, sie drehte sich um. Und im selben Augenblick sprang die Furcht sie an wie ein wütender Hund. Der Chef! Eine neutrale, fast geschäftsmäßige Miene hatte er aufgesetzt, hinter der er alles verbarg, was er von Vater gehört haben musste.
Hinter der unbewegten Miene versteckte Rudolf Grovian nur die eigenen Gefühle. Mea culpa! Mechthild war derselben Meinung gewesen. Er war über Mittag heimgefahren, hatte es nicht ausgehalten im Büro mit der blitzblanken Kaffeemaschine und dem Stuhl vor Augen, auf dem sie gesessen hatte. Mechthild hatte nicht mit ihm gerechnet, er kam sonst nie mittags heim. Da musste er nicht viel sagen. Sie fragte von sich aus: «Was ist los, Rudi?»
Und nachdem er es erklärt und auch gesagt hatte, was erseiner Meinung nach als Nächstes tun musste, sagte sie: «Rudi, du hast nicht mehr alle Tassen im Schrank. Lass das arme Ding doch in Ruhe. Du kannst ihr nicht helfen, du machst nur noch mehr kaputt. Da, wo sie jetzt ist, ist sie gut aufgehoben.»
«Gut aufgehoben, dass ich nicht lache! Hast du eine Ahnung, wie es in der Psychiatrie zugeht?»
«Nein, Rudi», sagte Mechthild und schlug ein paar Eier für ihn in die Pfanne, «und ich will auch keine haben. Ich habe nämlich schon eine Ahnung, wie es bei euch zugeht. Das reicht mir. Kein Mensch sagt etwas, wenn du dich zusammen mit Hoß auf einen Kerl stürzt, der es verdient hat. Aber so eine junge Frau! Rudi, bedenk doch, was sie mitgemacht hat.»
Das bedachte er unentwegt. Und das Gesetz verpflichtete ihn, nicht nur gegen sie zu ermitteln, sondern auch alles zusammenzutragen, was zu ihrer Entlastung beitragen konnte. Das erklärte er
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