Die Sünderin
Fragen heraushörte, wie viel er wusste.
Er fragte, ob sie noch einmal mit ihm über den Keller reden möchte. Und darüber, dass Zuhälter normalerweise keine gläubigen Menschen seien. Dass Zuhälter wohl häufig ein Mädchen schlagen ließen, es auch selbst schlugen, dass sie dabei jedoch nicht Amen! Amen! Amen! brüllten. Aber sie hätte gewiss häufig Amen sagen müssen. Und sie hätte sichdoch auch bestimmt oft gewünscht, ein normales Leben führen zu können. Mit einem jungen Mann.
Er sagte, er wisse, wie groß die Belastung durch Magdalena für sie gewesen sei. Und dann wollte er mit ihr über Musik reden. Speziell über die Lieder, die Magdalena gerne gehört hatte. Ob sie sich noch an bestimmte Titel erinnere, wollte er wissen.
Aber wo der Chef war, wollte er ihr nicht sagen. Kein Wort, ob er noch lebte. Da antwortete sie ihm auch nicht mehr. Und dann machte er Musik. Er ließ sie das Schlagzeug hören, die Gitarre und das hohe Pfeifen einer Orgel. «Song of Tiger»!
Und dieser scheinheilige Hund fragte, wie sie sich fühle. Woran sie jetzt denke. Woran schon? Achtzehn! Neunzehn! Zwanzig! Einundzwanzig! Sie hatte die Zähne zusammenbeißen müssen, dass es in den Kiefern knackte. Aber es hatte funktioniert. Zweiundzwanzig! Dreiundzwanzig! Vierundzwanzig!
Er war nervös geworden. Anzusehen war ihm das nicht gewesen, aber sie hatte es gefühlt und weitergezählt, weiter, immer weiter.
Achttausendsiebenhundertvierundvierzig. Die Tür ging auf. Einer der Pfleger kam herein. Es war der, der am vergangenen Abend zweimal nach ihr geschaut hatte. Einmal hatte er ihr das Haar aus der Stirn gestrichen und gefragt: «Wie fühlen Sie sich, kleine Frau? Geht’s wieder?»
Er hieß Mario, war ein netter Kerl, immer freundlich, immer gut gelaunt, dunkelhaarig wie Vater früher. Und sehr stark, ungeheuer kräftig. Er konnte sich einen erwachsenen Mann unter den Arm klemmen und ohne Schwierigkeiten forttragen, obwohl der Mann zappelte und strampelte und mit beiden Fäusten in Marios Rücken drosch.
Sie hatte es einmal gesehen, auf dem Rückweg vom Professor zu ihrem Zimmer. Und sie hatte gedacht, dass Vater vielleicht auch einmal so gewesen war. So groß wie Mario, sostark wie Mario. Als junger Mann auch so hübsch wie Mario. Sie hatte sich vorgestellt, wie Mutter sich in ihn verliebte, wie sie sich das erste Mal von ihm küssen ließ. Wie sie das erste Mal mit ihm schlief. Wie sie es genoss. Und wie sie das erste Kind mit ihm zeugte. Wie glücklich Mutter war über die späte Schwangerschaft und über den Mann, der zu ihr gehörte. Und sie hatte sich vorgestellt, sie wäre an Mutters Stelle und Mario wäre Vater.
Gestern Abend hatte sie es sich auch vorgestellt, als sie noch so benommen war von den Medikamenten, dass sie kaum denken konnte, sich nur etwas wünschen: Mario möge sie aus dem Bett nehmen und forttragen, weit, weit fort. Zurück in den Keller. Sie dort auf den Boden legen. Mitten im Raum stehen wie Herkules. Und sich jeden Einzelnen, jeden von denen, die sonst noch da waren, unter den Arm klemmen. Sie alle hinaustragen ins Freie. Und sie dort totschlagen. Alle! Und wenn er sie alle totgeschlagen hätte, käme er zurück, nähme sie wieder vom Boden hoch und sagte: «Jetzt ist es vorbei, kleine Frau. Jetzt ist es überstanden.» Und dann ließe er sie schlafen – bis in alle Ewigkeit.
Es war Sünde, so etwas zu wünschen. Das ganze Leben war Sünde. Der Tod auch. Sie hatte ihre Schwester getötet. Und als sie Magdalena tot vor sich liegen sah, war sie in Panik aus dem Haus gerannt. Sie war zurück zum «Aladin» gefahren, wo Johnny auf sie wartete. Er hatte ihr geholfen, die Leiche in die Heide zu schaffen. Sie hatten Magdalena irgendwo abgelegt, wo sie nicht so schnell gefunden werden konnte. Nahe dem militärischen Sperrgebiet, da ging niemand hin, auch die Soldaten nicht. Da konnte Magdalena zu einem stinkenden, ekligen Stück Dreck werden.
So musste es gewesen sein, genau wusste sie es nicht, aber Grit sah es so. Wobei Grit davon ausging, Magdalena sei bereits tot gewesen, als sie heimkam in der Nacht. Das war Grits Irrtum. Und der Professor wusste es jetzt. Und wenn sienicht zählte, musste sie sich fragen: Warum habe ich ihr kein Feuer gemacht? Ich hatte es versprochen. Hatten wir kein Benzin dabei? In Vaters Wagen lag immer ein voller Kanister. Aber Vaters Wagen stand beim «Aladin». Er kann für diese Fahrt nicht benutzt worden sein. Also muss mir jemand geholfen haben. Ich kann nicht
Weitere Kostenlose Bücher