Die Sünderin
Hilfsbereitschaft und ihr Verantwortungsbewusstsein.» Helene hatte leicht reden.
«Darf ich Ihnen Kaffee einschenken?» Sie erkundigte sich nicht einmal, wobei sie ihm helfen sollte.
«Ja, das wäre nett», sagte er.
«Stört es Sie, wenn ich stehen bleibe? Ich habe den ganzen Tag gesessen. Eine Stunde bei Professor Burthe und die restliche Zeit auf dem Bett.»
Helene hatte gesagt: «Halte sie beim Thema. Lass sie nicht abschweifen. Wenn sie es versucht, und das wird sie mit Sicherheit tun, bring sie sofort auf den Punkt zurück. Und lass dich nicht provozieren, Hardy. Sie wird es tun, wenn sie einigermaßen klar ist. Stell dir ein Kind vor, das völlig auf sich allein gestellt ist. Wenn da plötzlich jemand auftaucht, der behauptet,ich mag dich und will dir helfen, muss das Kind ihn auf die Probe stellen. Es wird ihn bis zur Weißglut reizen. Zeig ihr, wo die Grenzen sind. Bleib ruhig, aber bestimmt, Hardy. Du wirst doch mit einem Kind fertig werden.»
«Es wäre mir lieber, wenn Sie sich setzen», sagte er. Mit Helenes Instruktionen und Vorhersagen im Kopf war er auf alles gefasst. Auf ein Grinsen, auf Widerspruch, eine gelangweilte oder teilnahmslose Miene. Nichts dergleichen.
Sie zog einen Stuhl unter dem Tisch hervor und nahm Platz. Brav stellte sie die Füße nebeneinander, zupfte den Rocksaum über die Knie und lächelte ihn an. «Ich weiß immer noch nicht, ob es eine Mücke war oder nur ein Nervenreflex. Ich hätte hinschauen müssen. Es war dumm, das nicht zu tun. Wenn es eine Mücke war, ist sie bestimmt noch hier. Und dann kommt sie in der Nacht wieder. Ich hätte draufhauen müssen. Draufhauen! Einfach draufhauen! Es wäre nur eine Scheißmücke gewesen, die mich stechen will. Und alles, was sticht, muss man totschlagen.»
Eberhard Brauning konnte nicht beurteilen, ob sie einigermaßen klar war, ob sie Rudolf Grovians Meinung bestätigte und auf verschlüsselte Weise ihre Todessehnsucht zum Ausdruck brachte oder ihm nur Unsinn erzählte. Er hielt an Helenes Vorschlägen fest. «Ich bin nicht hier, um mit Ihnen über Mücken zu reden, Frau Bender. Ich habe ein paar Fotografien bei mir und möchte, dass Sie sich die Männer ansehen und mir …»
Weiter kam er nicht. «Ich will mir keine Männer ansehen.» Punkt und Schluss! Ihre Miene machte deutlich, dass sie nicht bloß einen Punkt, sondern ein Ausrufezeichen hinter ihren Willen gesetzt hatte.
Nur ein Kind, dachte er, ein ungeliebtes Kind. Er dachte es wie eine Beschwörungsformel. «Es ist sehr wichtig, Frau Bender. Sie werden sich die Fotos anschauen und mir sagen, ob Sie einen der Männer kennen.»
«Nein!» Zur Bekräftigung schüttelte sie energisch den Kopf. «Es ist doch garantiert ein Foto von Frankie dabei. Und das werde ich mir nicht anschauen. Ich muss mein Gedächtnis nicht auffrischen. Ich sehe ihn so deutlich, dass ich ihn zeichnen könnte.»
Unvermittelt brach ihre Stimme. Sie gab einen Laut von sich wie ein trockenes Schluchzen. «Ich sehe ihn mit und ohne Blut. Ich sehe ihn am Schlagzeug, und ich sehe ihn am Kreuz. Und immer hängt er in der Mitte. Er war der Erlöser. Nein! Nein, bitte, schauen Sie mich nicht so an. Ich bin nicht verrückt. Ich habe es doch in seinen Augen gelesen. Aber ich bin auch nicht Pilatus. Ich kann mir nicht die Wasserschüssel reichen lassen.»
Es hat überhaupt keinen Sinn, dachte Eberhard Brauning. Wenn wir es wirklich bis zur Hauptverhandlung schaffen – ein derartiger Ausbruch, und das war es.
Sie legte die Hände vors Gesicht, sprach mit gepresster Stimme weiter: «Er wollte nicht sterben. Er hat seinen Vater angefleht: Lass diesen Kelch an mir vorübergehen. Er hatte so eine schöne Frau. Warum lassen Sie mich nicht sterben? Ich will nicht mehr denken! Ich kann nicht mehr. Jetzt kann ich wieder von vorne anfangen. Achtzehn, neunzehn, zwanzig, einundzwanzig …»
Eberhard Brauning atmete tief und gleichmäßig ein und aus, ein und aus und wünschte Helene und ihre frisch erwachte Liebe zum Beruf zum Teufel. Und Rudolf Grovian, der ihr diesen Floh ins Ohr gesetzt hatte, gleich hinterher.
Der Pfleger stand bei der Tür und rührte sich nicht, tat, als sehe und höre er nichts. Er stand da nicht als Leibwache für ihn, auch nicht als Wachhund für sie. Er stand da auf Anweisung des Staatsanwalts, der es gerne persönlich übernommen hätte. Professor Burthe hatte ihm das ausreden können und es auch strikt abgelehnt, einen Kriminalbeamten in Cora Benders Nähe zu lassen. So war das Los
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