Die Sünderin
verbrennen lassen. Magdalena wollte das ja so. Und Margret sagte, damit ist die Sache ausgestanden. Wenn es irgendwann dumme Fragen gibt, Antworten gibt es nicht mehr.»
Die grausame Angst, das alles noch einmal hören zu müssen, brachte sie fast um. Sie schrie, griff nach der Hand, die den Puls an ihrem Handgelenk überprüfte, und klammerte sich daran fest. «Ich will nicht nach Hause. Schicken Sie mich nicht weg, bitte. Lassen Sie mich hier bleiben. Ich kann im Haushalt helfen. Ich tu alles, was Sie wollen. Nur schicken Sie mich nicht heim. Meine Schwester ist tot. Ich habe Magdalena umgebracht.»
Wie lange sie geschrien, gebettelt und die Hand umklammert hatte, wusste sie nicht. Es hatte ewig gedauert, bis sie ihren Irrtum erkannte. Er hatte sich nicht rasiert. Er hatte gar keinen Bart getragen. Er war der Sachverständige. Und sie hatte es ihm gesagt. Und wenn er am nächsten Morgen hundertmal so tat, als habe er nichts gehört. Wenn er sie noch tausendmal fragte, mit welchem Shampoo sie ihr Haar gewaschen hatte. Er hatte sein Ziel erreicht. Das Letzte aus ihr herausgeholt.
Viertausenddreihundertsiebenundzwanzig.
Viertausenddreihundertachtundzwanzig.
Magdalenas Knochen im Staub zwischen verdorrtem Gras.
Viertausenddreihundertneunundzwanzig.
Viertausenddreihundertdreißig.
Eine unbekannte Tote! Eine skelettierte Leiche in der Nähe eines Truppenübungsplatzes in der Lüneburger Heide.
Viertausenddreihunderteinunddreißig! Nicht denken! Sie durfte nicht denken, wollte auch nicht mehr.
Grit hatte gesagt: «Als dein Vater an dem Sonntagmorgen im Mai vor meiner Tür stand und sagte: ‹Die Mädchen sind weg.› Zuerst konnte ich es nicht glauben. Dann dachte ich, du hättest Magdalena nach Eppendorf bringen müssen. Wir haben herumtelefoniert. Fehlanzeige. Am Nachmittag fanden wir das Auto auf dem Parkplatz beim ‹Aladin›. Wir konnten uns das nicht erklären und wussten nicht, was wir tun sollten. Ich habe deinem Vater vorgeschlagen, er solle zur Polizei gehen. Das wollte er auf keinen Fall. Ich hatte fast das Gefühl, er nahm an, du hättest Magdalena …»
Grit hatte einen langen Seufzer ausgestoßen. «Wie er auf solch einen Gedanken kommen konnte, werde ich nie verstehen. Gerade er musste doch wissen, dass du dich für sie hättest vierteilen lassen. Ja, und dann haben wir in der Nachbarschaft erzählt, es ginge zu Ende mit ihr, und du weichst nicht von ihrer Seite. Ein Glück nur, dass Melanie an dem Wochenende bei Freunden übernachtet hat. Sie hätte vielleicht den Mund nicht halten können.»
Dann hatte Grit vom August gesprochen: «Ich finde es immer noch nicht richtig, was Margret gemacht hat. Und ich mache mir Vorwürfe, dass ich überhaupt etwas gesagt habe, als ich von dem Leichenfund in der Zeitung las. Ich wollte zuerst nicht mit deinem Vater darüber reden. Ich dachte, es regt ihn nur unnötig auf. So war es auch. Er hat auf der Stelle mit Margret telefoniert. Und weißt du, was er zu ihr sagte? ‹Wirhaben Magdalena gefunden.› Ich sagte: ‹Wilhelm, das ist doch nicht wahr! Wir haben gar nichts. Man hat eine Tote gefunden, irgendeine Tote, die kein Mensch mehr identifizieren kann. Es kann unmöglich Magdalena sein. Bei der hätte man Kleidungsstücke finden müssen, zumindest das Nachthemd. Sie hat doch immer ein Nachthemd getragen.› Er hat mich so komisch angeschaut und den Kopf geschüttelt. Und dann sagte Margret: ‹Es spielt keine Rolle, wer die Tote ist. Wir müssen etwas unternehmen. Wir haben schon viel zu lange gewartet.› Und im Grunde hatte sie Recht. Wir konnten nicht bis in alle Ewigkeit erzählen, du sitzt an Magdalenas Bett. Dass sie noch lebte, haben wir ja auch nicht geglaubt.»
Viertausenddreihundertzweiunddreißig. Und weiter bis in alle Ewigkeit – mit diesem Bild vor Augen – morsche Knochen im Dreck. Mit Magdalenas Stimme im Ohr: «Ich will die Hölle.» Aber die Leiche da draußen war nicht verbrannt gewesen. Gefault war sie, schwarz geworden, Würmer hatte sie bekommen.
Bei achttausendsiebenhundertdreiundvierzig hörte sie den Schlüssel in der Tür. Sie ließ sich nicht unterbrechen, rechnete fest damit, dass man sie noch einmal abholen wollte, um sie ein zweites Mal zum Professor zu bringen.
Die Sitzung am Vormittag war sehr unerquicklich für ihn gewesen. Er hatte von ihr wissen wollen, worüber sie zuletzt mit dem Chef gesprochen hatte. Der falsche Hund! Er wusste es doch längst. So blöd war sie noch nicht, dass sie nicht aus seinen
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