Die Sünderin
wir wieder jeden Tag. Wenn Vater von der Arbeit kam, marschierten wir los wie eine kleine Prozession. Vater voran, mit den Geräten auf der linken Schulter. In der rechten Hand trug er immer einen Eimer. Mutter schob den Kinderwagen. Magdalena trug eine Mütze, obwohl ihr Haar schon ein bisschen nachgewachsen war. Aber es war noch sehr dünn und fast weiß. Sonne konnte sie am Kopf nicht vertragen.
Ich lief hinter Mutter her und dachte an die gelben Äpfel. Golden Delicious, Vater hatte mir gesagt, wie sie heißen und dass sie süß waren. Der Baum stand so dicht an der Grundstücksgrenze, dass viele in die Furche und einige sogar in unseren Garten fielen. Und ich dachte, dass es nicht direkt gestohlen wäre, wenn sie in unserem Garten lagen und ich sie aufhob, und dass Äpfel nicht so verheerend sein konnten wie Schokolade und Bonbons. Grit sagte häufig, Obst essen sei gesund. Ich könnte auch für Magdalena ein paar aufheben, dachte ich, damit sie gesund wurde. Ich wollte sie nicht für mich alleine, wirklich nicht.
Der Weg zum Garten führte über eine Straße, auf der viel Verkehr herrschte. Und irgendwo am Straßenrand stand einegroße alte Holzkiste, in der früher das Streugut für den Winter aufbewahrt worden war. Inzwischen war sie leer. Das wusste ich von Vater. Und dann hatte ich diesen Traum.
Im Traum waren wir auf dem Heimweg. Magdalena saß im Wagen, sie war völlig erschöpft, hatte Schmerzen und weinte leise. Mutter machte Halt, kniete auf der Straße hin und begann zu beten. Ich ging an ihnen vorbei. Vater war schon auf Höhe der Kiste. Ich erreichte ihn, und wir gingen langsam weiter.
Dann hörte ich Geräusche hinter mir, ein Knarren und Knurren. Ich drehte mich um und sah einen schwarzen Wolf aus der Kiste springen. Mich und Vater beachtete er nicht. Er hetzte auf Mutter und Magdalena zu, war mit einem Satz im Kinderwagen und hatte Magdalena auch schon verschlungen. Um Mutter kümmerte er sich nicht.
Er lief zurück zur Kiste, sprang hinein, und bevor er den Deckel zuklappte, schaute er mich an. Er lachte wie ein Mensch, riss sein Maul weit auf dabei. An seinen Zähnen war noch Magdalenas Blut. Ich hätte Angst haben müssen. Aber ich hatte keine. Wie er mich anlachte, wusste ich, dass er mich mochte. Ich hätte ihn gerne mit nach Hause genommen wie einen Hund.
Mutter lag neben dem leeren Kinderwagen auf den Knien und hatte die Hände zum Himmel erhoben. Vater legte mir den Arm um die Schultern. Er lächelte zufrieden und sagte: «Das war der Höllenhund. Ein schönes Tier, nicht wahr! Hast du gesehen, was für einen prachtvollen Schwanz er hatte? Und diese herrlichen Zähne. Damit hat er uns einen großen Gefallen getan. Die sind wir los! Endgültig. Jetzt müssen wir uns nicht mehr wünschen, dass uns die Sünden abfaulen. Jetzt können wir sie wieder genießen. Und das werden wir tun, Cora. Soll ich dir mal etwas Schönes zeigen?»
Es war ein Zweikampf! Nach seinem kurzen Einwurf beteiligte sich der Mann im Sportanzug nicht weiter. Er saß da wie abgeschaltet. Mit dem sicheren Instinkt eines gehetzten Tieres erkannte sie, dass er nicht einverstanden war. Sie wusste nur nicht, was ihn störte, ihre Lügen oder die Vorgehensweise des Chefs. Dieses Bohren, Stochern, Drängen.
Er verlangte ihr etwas ab, was sie nicht geben konnte. Es war fast so wie damals mit Mutter. Das alleine hätte sie bewältigt. Das hatte sie von Grund auf gelernt, täuschen. Nur war es diesmal ganz anders. Es war wie verhext. Das Bild ließ sich nicht abschütteln, es beschwor nur weitere Bilder herauf. Diese verdammten Farbkleckse. Und die beiden Rücken auf der Treppe. Ein Mann und ein Mädchen.
Sie sah die Rücken nun auch auf den Vordersitzen eines Wagens. Nur waren es dort die Rücken von zwei Männern. Einer drehte sich zu ihr um und lächelte sie an. Sein Blick war wie ein Versprechen. Johnny Guitar!
Es war alles nur Einbildung. Ein Wunschtraum. Wünsche konnten im Hirn leicht zu Bildern werden und sich wie Erinnerungen darin breit machen. Und der Rest … Die Stimme des Mädchens, die Satinbluse, der Rock mit dem gezipfelten Saum, das Schlagzeugsolo. All diese Einzelheiten, irgendwann hatte sie das vermutlich gesehen und gehört. In einem Film! Es gab überhaupt keine andere Möglichkeit. Gereon hatte sich Unmengen von Filmen angeschaut. Fast jeden Abend einen. Das waren über tausend in den drei Jahren. Wenn ihr erst der Titel einfiel oder der Schluss …
Der Chef ließ ihr keine Zeit zum
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