Die Sünderin
sehr Dummes passiert», erklärte sie. «Ich kann mich nicht daran erinnern, will ich auch gar nicht. Ich habe es eingemauert. Achim hat gesagt, das machen viele Leute mit Erlebnissen, die sie nicht verkraften. Sie ziehen eine Mauer durch ihr Hirn und stopfen alles, was wehtut, dahinter. Achim sagte, man muss die Mauer einreißen und die Dinge verarbeiten, sonst kommt man nie zur Ruhe. Aber ich fand das mit der Mauer eine sehr gute Lösung.»
Sie nickte versonnen, hob den Kopf wieder und schaute Werner Hoß an. Ausschließlich an ihn gerichtet, sprach sie weiter. «Man hat im Hirn wahnsinnig viel Platz. Zum Denkenbraucht man nicht mal die Hälfte, knapp vierzig Prozent, glaube ich. Es kann aber auch sein, dass es umgekehrt ist und man sechzig braucht. Wussten Sie das?»
Werner Hoß nickte.
Sie lächelte melancholisch. «Das ist toll, nicht wahr? Das ist wie ein Dachboden, auf dem man das ganze Gerümpel unterbringen kann. Es hat auch funktioniert – bis Weihnachten. Seitdem ist es wieder da. Wenn ich das Lied gehört habe, kommt es über die Mauer wie der Wolf aus der Kiste. Vielleicht hat es etwas mit der Geburt des Erlösers zu tun. Das weiß ich nicht. Ich weiß ja gar nicht, worum es geht. Ich wache auf, und es ist nichts da. Es darf auch nichts da sein. Es hat mir den Kopf zerbrochen, wissen Sie. Ich fühle es heute noch, wenn ich den Traum hatte.»
Das wehmütige Lächeln verlor sich. Nach einem tiefen Atemzug wurde sie eifrig. «Als Kind ist mir das schon mal passiert. Das war aber ein anderer Traum, an den konnte ich mich immer erinnern. Und den fand ich auch schön, ich war gerne ein Tier.»
6. Kapitel
Es war ein furchtbarer Traum damals mit dem Wolf. Aber er war auch wunderschön. Mein sehnlichster Wunsch ging in Erfüllung. Magdalena war nicht mehr bei uns, und es war nicht meine Schuld. Mutter wollte auch nicht mehr bei uns sein. Sie blieb neben dem leeren Kinderwagen liegen. Und Vater hatte den Eimer voller Äpfel. Ich dachte, er müsse schon vorher gewusst haben, dass es passiert, sonst hätte er Gemüse und Kartoffeln in den Eimer getan.
Ich wachte auf und fühlte mich ganz leicht, obwohl ich rasch begriff, dass es nicht wirklich geschehen war. Aber gerade das fand ich so toll. Ich wusste, dass es eine der allerschwersten Sünden war, einem Menschen den Tod zu wünschen. Dafür musste man eines Tages Schmerzen leiden, die nie ein Ende nahmen.
Bis in alle Ewigkeit, sagte Mutter immer, würden Hunderte von kleinen Teufeln mir das Fleisch mit rotglühenden Zangen vom Leib reißen – in winzig kleinen Stücken, damit mein Fleisch für die Ewigkeit reichte.
Mutter hatte mir Bilder gezeigt, auf denen das mit anderen Leuten passierte. Aber wenn ich es nur träumte, konnte ich nichts dafür, und dann war es bestimmt keine Sünde.
Als ich morgens aufstand, war mir immer noch so leicht. Ich hatte das Gefühl, es würde ein ganz besonderer Tag werden. Damals dachte ich zuerst sogar, es wäre ein Wunder geschehen. Aber ein Wunder war es nicht, es wurde nur alles ganz anders.
Nachmittags musste Mutter Einkäufe machen. Sie schickte mich nach oben, Magdalena anschauen. Ich stellte mich wie sonst auch neben das Bett und dachte, sie schlafe. Doch alsunten die Haustür zufiel, öffnete sie die Augen und fragte: «Liest du mir was vor?»
Es war das erste Mal, dass Magdalena mit mir sprach. Sie sprach überhaupt selten, höchstens mal mit Mutter. Manchmal hatte ich schon gedacht, sie könne nicht richtig sprechen. Ich wusste gar nicht, was ich sagen sollte.
«Bist du taub, oder verstehst du kein Deutsch?», fragte sie.
«Was soll ich denn sagen?», fragte ich.
«Gar nix, lies mir was vor», verlangte sie.
Ich wusste nicht, ob Mutter damit einverstanden war. «Ich glaube, das ist zu anstrengend», sagte ich.
«Für dich oder für mich?», fragte Magdalena. «Soll ich dir sagen, was ich glaube? Du kannst gar nicht lesen.»
Ich war zu verblüfft, dass man mit ihr ganz normal reden konnte wie mit den Kindern auf dem Schulhof, dass ich gar nicht darüber nachdachte, was ich sagte. «Und ob ich das kann. Ich kann es sogar besser als Mutter. Ich lese nämlich laut und deutlich, ich nuschele nicht. Und ich kann auch richtig betonen, sagt die Lehrerin. Die anderen können das längst nicht so gut.»
«Das glaube ich erst, wenn du mir was vorliest», sagte sie. «Oder willst du nicht, weil du mich nicht leiden kannst? Das kannst du ruhig zugeben. Ich weiß, dass mich hier keiner leiden kann. Das macht mir
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