Die Sünderin
war es eben das ‹Aladin›. Da war ich meist. Weil man da tanzen konnte.»
Das ließ sich zur Not überprüfen. Und wann genau hatte sie versucht, sich das Leben zu nehmen? Diesmal kam zuerst ein lang gezogener Seufzer, dann die Auskunft: «Habe ich doch schon gesagt, im Oktober. Den genauen Tag weiß ich nicht mehr.»
Und in welchem Krankenhaus war sie anschließend behandelt worden? Sie antwortete mit abgewandtem Rücken. Ihre Stimme klang belegt. «Ich war nicht in einem Krankenhaus. Der Mann, der mich angefahren hat, war Arzt. Er hat mich in seine Praxis gebracht. Ich sagte ja, ich war nicht schwer verletzt. Außerdem hatte er etwas getrunken. Er hatte Angst um seinen Führerschein und war dankbar, dass ich keine Polizei wollte. Ich bin dann bei ihm geblieben, ein paar Wochen, bis Mitte November.»
«Wie hieß dieser Arzt, und wo wohnte er?»
Sie drehte sich um und schüttelte nachdrücklich den Kopf. «Nein! Bitte, lassen Sie das. Ich rede nicht über den Arzt, das kann ich nicht. Er hat mir geholfen. Er hat gesagt, ich … Er war sehr nett zu mir. Er hat gesagt, ich …» Das Kopfschütteln wurde heftiger, gleichzeitig schlang sie die Hände umeinander, rieb und knetete sie und versuchte einen dritten Anlauf. «Er hat gesagt, ich …»
Sie schaffte es erst nach einer Pause und ein paar vernehmlichen Atemzügen, den Satz zu vollenden: «… muss wieder nach Hause gehen. Aber meine Mutter …»
Sie zog die Schultern zusammen, als sie sich erinnerte. Mutter in der offenen Haustür stehend. Der misstrauische Blick. Sie sah sich selbst. Ein neues Kleid auf dem Leib, darübereinen Mantel, ebenfalls neu. Und die Schuhe, die Unterwäsche, über die Grit Adigar sich so gewundert hatte, schwarze Spitzenwäsche und Strümpfe, alles neu. Alles bezahlt von einem Mann, der sich verpflichtet gefühlt hatte, ihr zu helfen. Ein Arzt! Das war keine Lüge.
Und Mitte November setzte er sie in einen Zug und schickte sie heim, obwohl es ihr noch nicht gut ging. Im Gegenteil, es ging ihr sehr schlecht. Die Zugfahrt war nur ein verschwommener Eindruck. Wo sie eingestiegen, ausgestiegen und wie sie heimgekommen war, daran erinnerte sie sich gar nicht. Nur wie sie dann vor der Tür stand. So schwach auf den Beinen, den Kopf mit Blei gefüllt. Neben dem Blei nur den Wunsch, sich in ein Bett legen zu dürfen und zu schlafen. Einfach nur noch zu schlafen. Sie hörte ihre eigene Stimme, den bettelnden Ton darin: «Mutter, ich bin es, Cora.»
Und Mutters Stimme, teilnahmslos und gleichgültig: «Cora ist tot.»
So ähnlich hatte sie sich auch gefühlt im November vor fünf Jahren. Und jetzt wieder. Sie hätte Mutter nicht erwähnen dürfen. Und den Arzt auf gar keinen Fall.
Rudolf Grovian sah, dass sie sich fast die Finger brach mit diesem Kneten und Reiben. Er bezog die Abwehr auf die Worte über ihre Mutter. «Schon gut, Frau Bender. Sie müssen es nicht wiederholen. Das haben wir bereits auf Band. Aber den Namen des Arztes brauchen wir unbedingt. Wir wollen dem Mann nichts Böses. Kein Mensch wird ihn heute noch dafür belangen, dass er vor fünf Jahren unter Alkoholeinfluss ein Auto gefahren hat. Wir wollen ihn nur als Zeugen hören. Er könnte uns Ihren Selbstmordversuch bestätigen und die Schwangerschaft.»
«Nein!», sagte sie gepresst, krallte die Hände hinter dem Rücken um das Fensterbrett. «Von mir aus können Sie es wieder vergessen. Ja, vergessen Sie es. Sagen wir doch einfach: Ich hatte mal was mit dem Mann, den ich erstochenhabe. Er hat mich sitzen lassen, ich war sauer auf ihn. Und als ich ihm heute begegnete, habe ich ihn umgebracht.»
Rudolf Grovian legte eine gehörige Portion Nachdruck in seine Stimme. «Frau Bender, so geht das nicht. Sie können uns nicht irgendwas erzählen und bei jedem Punkt, der es uns erlaubt, Ihre Angaben zu überprüfen, mauern. Da muss ich fast wie mein Kollege annehmen, dass Sie uns nicht die Wahrheit sagen.»
Sie drehte sich erneut dem Fenster zu. Es war eine endgültige Bewegung, ihre Stimme unterstrich das noch. «Ich habe gesagt, vergessen Sie es! Ich habe mich nicht darum gerissen, Ihnen irgendwas zu erzählen. Sie haben mir gedroht, vergessen Sie das nicht. Aber jetzt müssen Sie aufhören. Ich kann nicht mehr, es geht mir nicht gut. Sie haben gesagt, wenn es mir nicht gut geht, soll ich es sagen, und dann hören wir auf.»
«Ich habe aber nicht gesagt, Sie sollen es als Ausrede benutzen.»
«Es ist keine Ausrede. Ich kann wirklich nicht mehr.» Ihre
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