Die Sünderin
Sie sagte, sie hätte keine Angst vor dem Tod. Aber ich habe welche.»
Sie malte immer noch Kreise auf das Laken. Aber jetzt hob sie den Kopf und schaute mir ins Gesicht. «Nicht vor dem Tod», sagte sie. «Sterben macht mir nichts aus. Es ist vielleicht besser, wenn man tot ist und nichts mehr wehtut. Wenn sowieso nichts richtig funktioniert und man nicht mal alleine aufs Klo gehen kann, ist es wirklich besser, glaube ich. Nur … Ich will nicht schwarz werden. Ich will keine Würmer kriegen und wegfaulen. Kannst du dir vorstellen, wie eklig das ist? Ich habe zu Mutter gesagt, sie sollen mich verbrennen lassen. Das machen viele. Es ist auch gar nicht so teuer. Aber Mutter sagte, das geht nicht. Erde zu Erde, hat sie gesagt. Der Erlöser ist auch nicht verbrannt worden.»
Wieder war sie still und schloss für eine Weile die Augen. Ich dachte, sie sei erschöpft vom vielen Reden. Das war sie auch, aber sie wollte mir unbedingt noch etwas sagen. Sie war nur nicht sicher, ob sie mir trauen durfte.
«Was ich dir jetzt sage, kannst du von mir aus Mutter erzählen», begann sie. «Ich hasse ihn! Ich hoffe, er fault jetzt, wo seine Füße nass geworden sind. Holz fault nämlich auch, wenn es nass wird. Deshalb wollte ich ihn waschen. Nur deshalb. Glaub nicht, ich denke, der macht mein Herz gesund. So einen Quatsch erzählen sie einem bloß, damit man den Mund hält und tut, was sie wollen. Ich habe aber keine Lust mehr. Wirst du es Mutter erzählen?»
Ich schüttelte den Kopf.
«Dann sind wir jetzt Freundinnen, ja?», fragte sie.
«Wir sind doch Schwestern», sagte ich. «Das ist mehr als Freundinnen.»
«Ist es nicht», widersprach sie. «Freundinnen mögen sich nämlich immer und Schwestern manchmal nicht.»
«Aber ich mag dich», sagte ich.
Sie verzog ihr Gesicht, es sah fast aus wie ein Lächeln – aber nur fast. Ich glaube, sie wusste genau, dass ich gelogen hatte. Dabei mochte ich sie in dem Moment wirklich. Das sagte ich ihr auch, und sie fragte: «Meinst du, wir könnten auch mal was zusammen spielen?»
«Ich weiß nicht. Was denn?»
«Kennst du das Spiel: Ich sehe was, was du nicht siehst? Dabei muss man sich nicht anstrengen. Das kann man gut spielen, wenn man im Bett liegt.»
Sie erklärte mir das Spiel, dann spielten wir es eine Weile. Im Schlafzimmer gab es nicht viel zu sehen. Uns wurde rasch langweilig. Wir hatten alles schon dreimal durch, da schlug Magdalena vor: «Wir können auch das Wunschspiel spielen, das habe ich mir selbst ausgedacht. Es ist ganz leicht. Man muss nur sagen, was man sich wünscht. Aber es müssen Dinge sein, die man kaufen kann. Also nicht so was wie viele Freunde oder so. Und dann muss man aufzählen, was man damit machen will. Am besten, ich fange mal an, dann siehst du, wie es geht.»
Sie wünschte sich als erstes einen Fernseher. Das kannte sie aus der Klinik. Da waren manchmal Leute, die ein Gerät auf dem Zimmer hatten. Dann wollte sie von morgens bis abends fernsehen. Außerdem wünschte sie sich ein Radio und einen Plattenspieler mit vielen Schallplatten. «Aber Stereo!», sagte sie. «Ich mag Musik so gerne, richtige Musik. Nicht solche, wo nur einer singt.»
«Soll ich Vater fragen, ob er ein Radio kauft? Es gibt ganz kleine, die kann man leicht verstecken.»
Magdalena schüttelte den Kopf. «Das bringt nichts. Wenn er wirklich eins kauft, wo soll ich es denn hier verstecken? Ehe wir uns umsehen, hat Mutter es verbrannt. Außerdem glaube ich nicht, dass er eins kauft. Für dich vielleicht, aber für mich nicht. Der rührt für mich keinen Finger. Er wünscht sich, ich wäre tot.»
«Das ist nicht wahr!», sagte ich.
«Ist es wohl», widersprach sie. «Wenn ich tot bin, kann er bei Mutter schlafen. Alle Männer schlafen bei ihren Frauen. Das tun sie gerne. Ich hab das mal gehört in der Klinik. Da hat ein Mann den Arzt gefragt, wann seine Frau nach Hause kommt und ob er sofort wieder mit ihr schlafen darf. Seine Frau hatte einen Herzinfarkt. Und der Arzt hat gesagt, das dauert noch ein Weilchen. Der Mann war sehr enttäuscht. Vater ist auch sehr enttäuscht. Deshalb ist er immer so unausstehlich.»
Ganz Unrecht hatte sie nicht. Manchmal war Vater wirklich unausstehlich. Nicht zu mir oder zu ihr, nur zu Mutter. Er schrie sie an, wenn sie ihm abends das Essen vorsetzte. Einmal warf er ihr den Teller mit der Suppe nach. «Den Fraß kannst du ins Wohnzimmer tragen. Der Herr stellt ja keine großen Ansprüche. Aber ich will für mein Geld etwas Vernünftiges
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