Die Sünderin
nichts aus. Ich kann auch keinen leiden. Warum meinst du, habe ich bisher den Mund gehalten? Weil ich nicht mit Idioten spreche. Ich spare mir den Atem für Leute, die etwas Vernünftiges sagen können.»
Da nahm ich die Bibel vom Nachttisch und schlug eine Stelle auf, die Mutter oft las, von dem Wunder, das der Erlöser getan hatte, als ein Mann sein Gewand berührte. Ich weiß nicht, ob ich ein schlechtes Gewissen hatte, weil sie sagte, dass wir sie nicht leiden können, oder ob ich ihr beweisen wollte, wie gut ich lesen konnte. Vielleicht war ich auch ein bisschen stolz, weil sie mit mir gesprochen hatte.
Ich gab mir sehr viel Mühe. Sie hörte mit geschlossenen Augen zu. Anschließend verlangte sie: «Und jetzt das von der Magdalena, die ihm die Füße wusch und sie mit ihren Haaren abtrocknete. Das mag ich am liebsten.»
Als ich auch das zu Ende gelesen hatte, sagte sie leise: «Ich habe aber auch ein Pech.»
Ich wusste nicht, was sie meinte. Und sie sagte: «Na, bei uns hat er doch kein Gewand an, nur so ein kleines Läppchen vor dem Bauch. Meinst du, wir könnten ihm eins umhängen? Wenn du ihn vom Schrank nimmst und heraufbringst, könnten wir es versuchen. Wir nehmen ein Taschentuch, und das berühre ich dann. Und danach wasche ich ihm die Füße. Ich trockne sie ihm mit meinen Haaren auch wieder ab. Das muss doch helfen.»
«Deine Haare sind viel zu kurz», sagte ich.
Magdalena zuckte mit den Schultern. «Da müssen wir nur nahe genug ran. Das wollte ich schon immer mal tun. Holst du ihn rauf? Oder hast du Angst, dass Mutter dich auf der Treppe erwischt?»
Ich hatte keine Angst vor Mutter. Ich wollte nur nicht, dass Magdalena etwas tat, wovon sie sich viel erhoffte. «Er kann dir nicht helfen», sagte ich. «Er ist doch nur aus Holz. Und die Magdalena aus der Bibel war nicht krank. Sie war eine Sünderin.»
«Sündigen kann ich auch», erklärte sie. «Soll ich mal ein dreckiges Wort sagen?» Bevor ich ihr antworten konnte, sagte sie: «Arschloch! Holst du ihn jetzt?»
Da ging ich hinunter. Sie tat mir plötzlich so furchtbar Leid. Ich glaube, an dem Nachmittag begriff ich zum ersten Mal, dass meine Schwester ein normales Kind war. Ein sehr krankes Kind, das jederzeit sterben, das niemals ein Leben führen konnte wie ich. Aber sie konnte sprechen wie ich, denken wie ich und fühlen wie ich.
Ich brachte ihr das Kreuz ans Bett. Zuerst machten wir das mit dem Taschentuch. Ich nahm eins von Vater, das war groß genug. Ich band es ihm um den Hals, und Magdalena rieb es zwischen ihren Fingern. Dann holte ich aus dem Bad Wasser in einem Zahnputzbecher. Und Magdalena wusch ihm die Füße. Ich hielt das Kreuz ganz nahe an ihren Kopf. Damit sie ihn mit ihren Haaren auch wieder abtrocknen konnte. Völlig trocken wurden seine Füße nicht. Seine Beine waren auch nass geworden. Er war ja ziemlich klein. Und Magdalena wollte nicht, dass ich ihn mit dem Taschentuch trockenrieb. «Dann wirkt es vielleicht nicht», meinte sie.
Nachdem ich ihn wieder hinuntergebracht hatte, fragte ich, woher sie schmutzige Ausdrücke kannte.
«Aus der Klinik», sagte sie. «Du glaubst nicht, was die da für dreckige Worte kennen. Und wenn sie meinen, man schläft, sagen sie die auch. Die Ärzte nicht, aber die anderen Leute. Viele Leute, die krank sind, werden richtig gemein. Ich liege ja meist bei den Großen. Und die schimpfen und fluchen, sie wollen einfach nicht sterben.»
Für einen Moment war sie still, dann sprach sie langsam weiter: «Ich wünsche mir, dass ich nicht mehr nach Eppendorf muss. Obwohl es manchmal nett ist, nicht so langweilig wie hier. Sie haben Spiele. Wenn ich im Bett sitzen kann, bringt die Schwester eins, sie holt dann auch ein paar Kinder, und die spielen mit mir. Es ist Mutter nicht recht. Aber sie traut sich nicht, etwas zu sagen. Einmal hat die Schwester nämlich mit ihr gemeckert. Mutter sagte, ich könnte nicht spielen, ich müsste ruhen. Da hat die Schwester gesagt: ‹Es kommt der Tag, da kann sie ruhen, bis sie schwarz wird. Und bis dahin soll sie spielen, solange sie Lust hat.› Tote werden schwarz, weißt du, und dann kriegen sie Würmer und faulen weg.»
Sie schaute mich nicht an, während sie das sagte. Sie malte mit einem Finger Kreise auf das Laken und erzählte noch mehr. «Da war mal ein Mädchen, die war schon achtzehn. Diehat mir das erklärt. Sie hatte auch Leukämie, aber bei ihr schlug die Behandlung nicht an. Einen Knochenmarkspender haben sie auch nicht gefunden für sie.
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