Die Sünderin
war lächerlich. Ein Wunder, dass der Chef nicht gelacht hatte.
Ganz klein vor Angst und Sorge, betrachtete sie sein Gesicht. Zuerst huschte ein Ausdruck von Erstaunen darüber, dann Genugtuung, seine Stimme troff über davon.
«Es muss nicht sein», sagte er. «Es reicht, wenn Sie am Vormittag kommen. Um zehn Uhr?» Er horchte wieder, lächelte sogar. «Ja, gut, wenn es Ihnen so wichtig ist. Es ist nicht die erste Nacht, die ich mir um die Ohren schlage.»
Nachdem er aufgelegt hatte, schickte er zuerst ein bedeutsames und wie um Vergebung bittendes Nicken an den Mann im Sportanzug, dann eins in ihre Richtung. In sein Lächeln mischte sich Mitleid. Er zeigte auf das Telefon. «Ein junges Ehepaar?», fragte er. «Freunde von Georg Frankenberg?» Er seufzte und sagte gedehnt: «Frau Bender!»
Dann sprach er weiter mit väterlicher Gönnerhaftigkeit: «Warum haben Sie uns nicht einfach gesagt, dass Ihre Tante in Köln lebt? Sie sind im Dezember vor fünf Jahren zu Ihrer Tante geflüchtet. Es gab kein junges Ehepaar. Das gerade war Ihre Tante, Frau Bender.»
Sie schüttelte den Kopf. Das hätte sie besser gelassen. Sie spürte weitere Brocken aus der Mauer fallen und wie sie darüber stolperte, wie sie abrutschte, ein paar Treppenstufen hinunter. Es gab nirgendwo einen Halt. Sie bemühte sich zwar, indem sie sich an Margret klammerte und schrie: «Nein! Das stimmt nicht! Meine Tante hat nichts damit zu tun. Sie hatte nie etwas mit mir zu tun. Da fällt mir geradeein, wie die Leute hießen, die Frau hieß Alice. Und der Mann … warten Sie, es fällt mir sofort ein. Er hieß … Er war … O Scheiße, verfluchte Scheiße, wo ist das denn hin? Gerade wusste ich es noch. Er … Er wollte sich selbständig machen mit einer Gemeinschaftspraxis, das hat er mir erzählt.»
Scheiße, dachte auch Rudolf Grovian, zu mehr reichte es nicht. Winfried Meilhofer und Alice Winger, der See! Und sie schrie weiter: «Was hätte ich denn bei meiner Tante suchen sollen? Meinen Sie wirklich, ich hätte eine Frau angerufen, die ich kaum kannte, damit sie mir hilft?»
«Ja», sagte er, es klang gepresst von Enttäuschung und Frustration. «Und das meine ich nicht nur. Ihre Tante hat es mir gerade so erklärt. Und damit stellt sich uns die Frage, wo Sie die Namen Frankie, Böcki und Tiger tatsächlich gehört haben. Nicht von einem Mann in Köln. Sie haben diese Namen heute Nachmittag am See aufgeschnappt, habe ich Recht?»
Sie starrte ihn mit konzentriert gerunzelter Stirn an. Es schien fast, dass sie angestrengt über seine Frage nachdachte. Aber sie antwortete nicht. Es war auch überflüssig. Alles war in Frage gestellt, alles wieder offen. Wie ein Idiot war er ihr auf den Leim gegangen! Und warum, verdammt nochmal? Weil sie ihm exakt das erzählte, was er eingangs für die einzig rationale Erklärung gehalten hatte – eine wunderhübsche Liebesgeschichte mit tragischem Ausgang. Er seufzte und winkte ab. «Machen wir Schluss.»
«Nein!» Sie hielt sich nur mit Mühe auf dem Stuhl, das sah er. Mit beiden Händen umklammerte sie die Sitzlehne. «Ich kann das alles nicht noch einmal. Wir bringen es jetzt zu Ende.»
«Nein», sagte er ebenfalls und sehr bestimmt. «Ich habe genug für heute. Ich rufe die Kollegen. Die können Sie für die Nacht unterbringen. Eine Portion Schlaf wird Ihnen gut tun. Sie sagten ja eben, dass Sie sehr müde sind.»
«Das war doch nur so gesagt. Ich bin überhaupt nichtmüde», beteuerte sie und fragte im gleichen Atemzug: «Was wollte Margret? Warum hat sie angerufen?»
«Sie will mit uns reden», sagte er und fand, es wurde allerhöchste Zeit, mit einem Mitglied ihrer Familie zu sprechen. «Und das ist ihr so wichtig, dass sie damit nicht bis morgen warten kann. Sie kommt her.»
«Sie müssen sie wieder wegschicken», verlangte sie beschwörend. «Mit Margret vertrödeln Sie nur Ihre Zeit. Sie kann Ihnen nichts sagen. Niemand kann Ihnen etwas sagen, nur ich.»
Rudolf Grovian lächelte freudlos. «Und Sie haben für heute genug gesagt, glaube ich. Da brauchen wir drei Tage, um das zu sortieren. Mal sehen, ob Ihre Tante uns dabei helfen kann.»
Wieder schüttelte sie den Kopf, noch etwas heftiger diesmal. Und es ging noch ein paar Stufen hinunter. «Das kann sie nicht! Ich habe ihr nie etwas erzählt. Ich habe keinem Menschen etwas davon erzählt. Ich habe mich viel zu sehr geschämt. Sie haben kein Recht, Margret Fragen zu stellen. Wenn ich Ihnen doch sage, dass sie nichts weiß.»
Sie
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