Die Sünderinnen (German Edition)
erraten. Im nächsten Monat würde sie ihren fünfzigsten Geburtstag feiern und sie war stolz darauf. Wahrscheinlich weil sie erst seit Kurzem das Leben führte, das sie sich seit langer Zeit erträumt hatte. Ohne Dominiks Eskapaden. Ihr schlanker, durchtrainierter Körper steckte in einem knallgrünen Hausanzug, den sie sich extra zum Jahrestag der Trennung gekauft hatte.
Seufzend schlug sie die nächste Seite des Buches auf, das sie verdächtig weit von sich hielt. Offensichtlich würde sie demnächst kaum ohne Lesebrille auskommen. Sie versuchte, sich in ihren Roman zu vertiefen, was ihr jedoch nicht einmal ansatzweise gelang. Angeblich war das Buch ein Bestseller, aber sie konnte sich nicht recht darauf konzentrieren. Wahrscheinlich lag das weniger an der schleppenden Handlung, als daran, dass ihr ohnehin nicht mehr viel Zeit zum Lesen blieb. In einer halben Stunde musste sie aufbrechen, um pünktlich bei ihren Yogaübungen in der Volkshochschule zu erscheinen. Der Kurs lief über zehn Doppelstunden, immer am Dienstagabend. Achtmal hatte er schon stattgefunden, und sie hatte enorme Fortschritte gemacht. Heute war sie sogar mit einigen Teilnehmerinnen hinterher zu einem kleinen Umtrunk verabredet. Trotz aller Vorfreude fühlte sie sich irgendwie beunruhigt.
Wahrscheinlich war ihr nur etwas komisch zumute, weil Rüdiger nicht im Hause weilte. Zwar lebte ihr neunzehnjähriger Sohn nach der Scheidung von Dominik bei ihr, aber heute früh hatte sie ihn zum Bus gebracht, der den Leistungskurs Französisch seiner Schule nach Paris chauffieren würde. Nun, sie wünschte den Schülern, allen voran ihrem Sohn, wirklich ein paar aufregende Tage, dennoch empfand sie einen Hauch von Einsamkeit, gemischt mit einer undefinierbaren Unruhe, wenn nicht gar einer leichten Angst. Grundsätzlich fühlte sie sich immer ein wenig verloren, wenn Rüdiger woanders übernachtete, aber heute wirkte das leere Haus fast bedrohlich. Der Yogakurs würde sie sicher auf andere Gedanken bringen.
Eilig erhob sie sich, um sich noch etwas frisch zu machen. Nachdem sie schnell unter die Dusche gesprungen war, zog sie einen erdfarbenen Fitnessanzug an, stopfte eine Decke, sowie Wollsocken in eine Sporttasche und stieg aus dem Obergeschoss wieder nach unten. Sie durchquerte die Küche. In dem dahinter liegenden Vorratsraum hatte sie direkten Zugang zur Garage. Sorgfältig verschloss sie die Tür hinter sich und drückte auf einen der beiden Knöpfe rechts an der Wand.
Mit einem quietschenden Geräusch fuhr das Garagentor hoch. Seltsam beunruhigt stellte sie die Sporttasche in den Kofferraum ihres fast neuen Wagens und setzte sich hinter das Steuer. Als sie gerade den Motor starten wollte, wurde es um sie herum kontinuierlich dunkler. Ein Blick in den Rückspiegel bestätigte ihren Verdacht: Das Garagentor schloss sich langsam wieder. Was hatte das zu bedeuten? Nur mit Mühe konnte sie ihre Gedanken koordinieren. Du musst hier raus, schrie plötzlich eine Stimme in ihr, aber sie war unfähig, sich zu rühren. Ehe sie endlich reagieren konnte, wurde die Autotür aufgerissen. Ein Schatten beugte sich zu ihr in den Wagen, dann presste sich blitzschnell eine behandschuhte Hand auf ihren Mund. Ihr Schrei erstickte. Nur die aufgerissenen Augen spiegelten ihre Panik wider.
»Aussteigen«, befahl eine männliche Stimme, die trotz der geringen Lautstärke entschlossen klang.
Während sie vor Schreck regungslos verharrte, drückte der Eindringling etwas Spitzes gegen ihren linken Oberarm. Im schwachen Lichtschein der Innenbeleuchtung ihres Wagens erkannte sie, dass der Mann maskiert war.
»Los, aussteigen«, befahl der Eindringling nun etwas lauter.
Durch den Stoff seiner Maske klang die Stimme gedämpft. Trotzdem glaubte Eva Maria Garden sie schon einmal gehört zu haben. Wie in Trance stieg sie aus. Weil ihr die Beine einzuknicken drohten, klammerte sie sich an der Wagentür fest. Ihre Knie zitterten, sie spürte den Körper des Mannes dicht hinter sich. Einen kurzen Moment erwog sie, laut loszuschreien, doch sie wusste instinktiv, dass ihr die Stimme versagen würde. Zudem konnte sie ohnehin niemand hören. Das Nachbargrundstück war zu weit entfernt und ihre Straße eine wenig frequentierte Sackgasse. Am liebsten hätte sie ihren Tränen freien Lauf gelassen, aber sie durfte jetzt auf keinen Fall die Nerven verlieren. Ihre Gedanken wirbelten durcheinander. Sicher ging es dem Mann um Geld. Klar, er wollte Geld oder Wertgegenstände. Vielleicht auch die
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