Die Sünderinnen (German Edition)
ärgerte, war seine Einsicht, dass der Kriminalhauptkommissar nicht ganz Unrecht hatte.
Verdutzt öffnete Mark Marion Karsting die Tür. Seine Patientin wirkte heute so verändert, als stünde eine völlig neue Frau vor ihm. Während Mark sie in den Praxisraum führte, fragte er sich, wie dieser Eindruck zustande kam. Ließ der dezente Lippenstift, den sie bisher niemals benutzt hatte, sie jünger erscheinen? Oder die neue Frisur mit den flotten, blonden Strähnchen? Mark interessierten die Äußerlichkeiten jedoch wenig. Allerdings ließen die in der Regel auf einen inneren Wandel schließen. Neugierig nahm er Marion Karsting gegenüber Platz und studierte so unauffällig wie möglich Mimik und Gestik. Ihre Hände, die sie gewöhnlich gefaltet in ihrem Schoß hielt, lagen heute entspannt auf den Oberschenkeln. Noch mehr jedoch beeindruckte Mark ihr offener Blick, der ein anderes Selbstbewusstsein ausdrückte.
»Ich fühle mich wie ein neuer Mensch«, erklärte sie mit einem Lächeln.
Mark hatte diese Einschätzung schon öfter gehört, aber nicht immer entsprach sie so offensichtlich der Realität wie bei Marion Karsting.
»Das freut mich«, erwiderte Mark ebenfalls lächelnd. Am liebsten hätte er sie mit allerlei Fragen bestürmt, aber er wollte nicht vorschnell in sie dringen. So wie er die Patientin einschätzte, würde sie ihm die Entwicklung von selbst schildern.
»Seit der letzten Therapiesitzung habe ich viel nachgedacht«, fuhr sie fort. »Ich habe nicht lange gezögert, Ihre Vorschläge in die Tat umzusetzen. Und es hat sich gelohnt.«
Mark nickte bestätigend. Insgeheim überlegte er, welchen seiner Ratschläge sie zuerst befolgt hatte und vor allem, welcher zu diesem beachtlichen Ergebnis geführt hatte.
»Ich habe Kontakt zu meinen Geschwistern aufgenommen«, kam sie seiner Frage zuvor. »Erst telefonisch. Später habe ich mich sowohl mit meinem Bruder Alfred als auch mit meiner älteren Schwester getroffen. Sie haben einem Treffen sofort zugestimmt, obwohl sie beide sehr beschäftigt sind, besonders Jutta. Ganz die erfolgreiche Geschäftsfrau.«
Mit einer gewissen Genugtuung registrierte Mark, dass sie ihre Geschwister direkt beim Vornamen genannt hatte. Anscheinend waren die alten Bindungen nicht ganz verloren gegangen. Mark wusste nur zu gut, welche Bedeutung sie besitzen konnten, besonders wenn die Trennung von einem Partner anstand. Die Art und Weise wie Marion Karsting jetzt auftrat, machte ihn ziemlich sicher, dass sie sich von ihrem brutalen Ehemann trennen würde, sofern sie diesen Schritt nicht schon vollzogen hatte. Auf keinen Fall konnte ihr erwachtes Selbstbewusstsein weitere Demütigungen hinnehmen.
»Ich bin so froh, dass ich diesen Schritt gewagt habe«, fuhr sie fort.
Er war sich nicht sicher, ob sie die Trennung meinte oder das Wiedersehen mit ihren Geschwistern.
»Ich hätte sie viel eher besuchen sollen. Dann wäre mir sicher einiges erspart geblieben.« Seufzend strich sie sich eine frisch blondierte Haarsträhne aus der Stirn.
»Die Zeit muss reif sein«, erklärte Mark. »Zuvor hätten Sie den Schritt vielleicht nicht richtig nutzen können oder ihn erst gar nicht getan. Schließlich gab es einen Grund, warum Sie Ihre Geschwister so lange nicht gesehen haben. Ihr Unbewusstes wollte die Vergangenheit einfach ruhen lassen.«
»Aber das war nicht gut«, wandte seine Patientin ein und schlug die schön geformten Beine übereinander.
Mark konnte sich nicht erinnern, sie jemals in einem Rock gesehen zu haben, zumindest in keinem, der beim Sitzen bis über die Knie gerutscht war.
»Jutta und Alfred haben genauso unter den brutalen Schlägen unseres Vaters gelitten wie ich. Dieses Bekenntnis hat mir richtig gutgetan. Verstehen Sie? Selbst Jutta, die erfolgreiche Geschäftsfrau. Das Beste jedoch kommt noch. Beide haben mir erzählt, dass wir die Schläge meist nicht verdient hatten, erst recht nicht unsere lammfromme Mutter. Erinnern Sie sich?«
Mark nickte. Er wusste genau, worauf seine Patientin hinauswollte. Schließlich hatte er diese Entwicklung hin zu einem bewussten Umgang mit der eigenen Vergangenheit selbst initiiert.
»Im Gegensatz zu mir, konnte sich meine Schwester noch genau an unsere Kindheit erinnern. An einige Erlebnisse erinnerte sie sich sogar bis ins Detail. Und es war tatsächlich so, dass Vater regelrecht nach Vorwänden gesucht hat, um uns oder unsere Mutter wieder zu schlagen. Da hat es in meinem Kopf irgendwie Klick gemacht. Genau das haben Sie
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