Die Sünderinnen (German Edition)
doch bei meinem Mann vermutet. In diesem Moment war es, als teilte sich der Schleier, der mich bis dahin ständig umgeben hat, und ich konnte endlich klarsehen.
Ihr Blick verdunkelte sich. Eine Weile starrte sie stumm vor sich hin. Mark kannte diesen plötzlichen Anflug von Trauer. Jeder Abschied erfüllt mit Wehmut, selbst der Abschied von einem Teil der eigenen Person, von der wir uns für immer zu distanzieren wünschen.
»Hat Ihr Mann Sie danach noch einmal geschlagen?«, fragte Mark, als ihm das Schweigen zu lange erschien. Zudem erinnerte ihn ein Blick auf die Uhr an das nahe Ende der Sitzung. Er bezweifelte, dass Marion Karsting seine Praxis jemals wieder betreten würde. Soweit er das beurteilen konnte, glaubte sie, seine Hilfe nicht mehr zu benötigen.
»Zumindest hat er es versucht«, antwortete sie mit erstaunlich fester Stimme. »Ja, er wollte mich tatsächlich wieder schlagen. Und wissen Sie, warum?«
Erstaunt registrierte Mark, wie sie das Gesicht zu einem spöttischen Grinsen verzog. Plötzlich drang ein hohes, kehliges Lachen aus ihrem Mund.
»Angeblich hatte ich ein Beweisstück verlegt.« Sie lachte noch einmal kurz auf, dann wurde ihre Miene wieder ernst. »Er hat noch nie Beweisstücke mit nach Hause gebracht, höchstens Kopien«, fuhr sie mit fester Stimme fort. »Auf einmal war er so lächerlich leicht zu durchschauen. Natürlich hat er erwartet, dass ich ihn um Gnade anflehe, aber diesmal habe ich ihm den Gefallen nicht getan. Stattdessen habe ich ihm auf den Kopf zugesagt, worum es ihm eigentlich ging.«
»Wie hat Ihr Mann auf diese neue Situation reagiert?«, fragte Mark.
»Er hat mich nicht angerührt. Dabei habe ich ihm erklärt, dass er sich künftig fadenscheinige Begründungen für seine Aggressionen sparen könne, wo es ihm doch einfach nur Spaß mache, mich zu schlagen. Wie von Sinnen hat er mich angesehen, dann ist er aus dem Haus gestürmt. Als er fort war, habe ich meine Koffer gepackt.«
»Wollen Sie sich für immer von Ihrem Mann trennen?«
»Ich kann nicht mehr mit ihm zusammen sein«, erwiderte sie mit leicht heruntergezogenen Mundwinkeln. »Seine Art widert mich nur noch an.«
»Also wollen Sie jetzt allein leben?«
»Ja, allerdings bin ich bis jetzt bei meiner Schwester untergekommen. In den ersten Nächten war mir wichtig, jemanden in meiner Nähe zu wissen.«
»Warum?«, fragte Mark hellhörig. »Hatten Sie Angst vor Ihrem Mann.«
»Nein, nein«, erwiderte Marion Karsting sehr schnell. »Mir ging es mehr um die emotionale Unterstützung. Zudem brauchte ich ja von heute auf morgen eine Bleibe. Inzwischen habe ich eine möblierte Wohnung hier in Duisburg gefunden, in die ich morgen einziehen werde. Und demnächst trete ich sogar eine Stelle in einer Buchhandlung an, zumindest für einige Stunden in der Woche.«
»Das ist ja wunderbar«, erklärte Mark mit einem demonstrativen Blick auf die Wanduhr. Irgendetwas drängte ihn, die Sitzung zu beenden, obwohl der übliche Zeitrahmen noch nicht ausgeschöpft war.
»Ich habe Ihnen viel zu verdanken«, erklärte sie, während sie sich fast gleichzeitig erhoben. »Sie haben mir geraten, Jutta aufzusuchen. Und ihr Geständnis hat mir Mut gemacht. Mut, den Teufelskreis endlich zu durchbrechen.«
Eilig führte Mark sie hinaus. Er mochte keine Abschiedsszenen. Inzwischen war er sicher, dass er Marion Karsting niemals wiedersehen würde, zumindest nicht in seiner Praxis.
Während Kriminalhauptkommissar Pielkötter mit dem Aufzug in die oberste Etage des Bürohauses in der Essener Innenstadt hochfuhr, blieb sein Blick an dem Hinweisschild der Immobilienfirma Garden haften. Unwillkürlich musste er daran denken, dass Jan Hendrik nun mit seinem Freund in einer gemeinsamen Wohnung lebte. Sie hätten ja nicht gleich zusammenziehen müssen, fand Pielkötter. Immerhin kennen sie sich schon drei Jahre, hatte Marianne argumentiert. Für seinen Geschmack zeigte sie wie immer zu viel Verständnis für ihren Sohn. Jedenfalls würde er nicht umhinkommen, sich in der nächsten Zeit mit diesem Thema auseinanderzusetzen.
Mit einem Ruck hielt der Aufzug in der fünften Etage, und Pielkötter trat eilig ins Treppenhaus. Die Immobilienfirma Garden lag direkt gegenüber. Die Klinke der Eingangstür hatte die Form eines Hauses, und es gab einen Anmeldetresen, der Pielkötter an die Rezeption eines Hotels erinnerte. An einem Schreibtisch hinter dem Tresen saß eine relativ junge Frau mit kastanienroten langen Haaren, die auffällig glänzten.
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