Die Sünderinnen (German Edition)
die er vor etlichen Jahren gesehen hatte. Die Arbeit gab es allerdings immer noch. Zwar hatte man diesen »Hochofen 5« im Landschaftspark Duisburg-Nord, dem ehemaligen Meidericher Hüttenwerk, stillgelegt, aber in der Stadt waren weitere Hochöfen in Betrieb. Die Montanindustrie würde hier sicher noch eine Weile erhalten bleiben.
Pielkötter riss sich zusammen und versuchte mit dem Tempo seines Sohnes Schritt zu halten. Anscheinend wollte der den Hochofen in rekordverdächtiger Zeit besteigen. Als Pielkötter endlich lange nach ihm die oberste Stufe erreicht hatte, musste er zugeben, dass Jan Hendrik nicht zu viel versprochen hatte. Er fühlte sich wie auf dem Dach des Reviers. Duisburg lag unter ihnen, und der Blick reichte in Ost-West Richtung bis nach Essen und zum Niederrhein.
»Na?«, fragte sein Sohn. Er stand neben ihm, schaute hinunter, seine Kamera hatte er allerdings nicht in Stellung gebracht.
»Ich denk, du bist wegen der Fotos hier«, erwiderte Pielkötter ausweichend.
Jan Hendrik lächelte vielsagend, als hätte er seinen Vater durchschaut.
»Hier oben bin ich nur wegen der Weitsicht. Die ganze Anlage hier ist das Motiv. Zudem mache ich die Fotosession erst, wenn du weg bist. Soweit ich dich verstanden habe, hast du nur wenig Zeit. Eigentlich hast du niemals Zeit.«
»Ist das der Grund?«, erkundigte Pielkötter sich ernst.
»Dass ich schwul bin?«
Stumm blickte Pielkötter auf die Industrielandschaft zu seinen Füßen.
»Ne, dein Beruf hat damit wirklich nichts zu tun.«
»Warum dann?«, fragte Pielkötter mit einer Stimme, die ihm missraten vorkam.
»Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht. Außerdem ist das nicht wichtig.«
»Seit wann?«, Pielkötter räusperte sich, »ich meine, wann hast du zum ersten Mal gespürt, dass du anders bist?«
»Schon recht früh. Nur deuten konnte ich das zunächst nicht. Erst beim Abiball ist es mir wirklich klar geworden. Während meine Kameraden in Jennifers Ausschnitt schielten, fand ich den Typen an ihrer Seite einfach unwiderstehlich. Dabei war Jennifer wirklich der heißeste Feger der ganzen Schule.«
Pielkötter stöhnte unwillkürlich. Er konnte nur hoffen, dass Jan Hendrik diese Reaktion nicht mitbekommen hatte. Auf keinen Fall war ihm daran gelegen, die zaghafte Annäherung zwischen ihnen zu stören.
»Ganz schön zugig hier oben«, erklärte er, weil er auf Jan Hendriks Geständnis nichts zu erwidern wusste.
»Okay, seilen wir uns ab«, stimmte sein Sohn zu. »Die besten Fotos schieße ich sowieso von unten. Neben dem Hochofen muss ich noch zur Gießhalle und dem Gebläsehallenkomplex. Wusstest du, dass Götz George, alias Schimanski, dort eine Filmpremiere gefeiert hat?«
»Ne, interessiert mich auch nicht. So ne Art Schimanski bin ich selbst.«
Fast hätte Pielkötter eine Treppenstufe verfehlt.
»Hast du eigentlich schon Abnehmer für die Bilder?«
»Klar«, erwiderte Jan Hendrik sichtlich stolz. »Schließlich gehören wir zur Kulturhauptstadt Ruhr 2010. Ohne direkten Auftrag bin ich nur noch selten unterwegs. Die Bilder bereichern einen Bericht über den Strukturwandel im Ruhrgebiet. Die künstliche Trennung von Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur ist out. Architektur, kulturelle Vielfalt, Stadtplanung, Bildung, das alles sind Mosaiksteinchen des Gesamtkunstwerks.«
»Und du schießt die Bilder dazu«, unterbrach ihn Pielkötter, um das Gespräch von einer abstrakten Ebene wieder auf etwas Konkretes zu lenken.
»Vielleicht komme ich heute Abend noch einmal her, wenn alles beleuchtet ist«, ließ sich Jan Hendrik darauf ein.
»Das muss wirklich spektakulär sein. Ich habe es leider noch nicht geschafft, mir die Lichtinstallationen aus der Nähe anzuschauen, kenne sie nur aus der Ferne, vom Vorbeifahren auf der A 42.«
»Noch besser sieht das morgens bei Sonnenaufgang aus. Morgenrot wie Glut hinter dem ehemaligen Meidericher Hüttenwerk. Der Spruch passt irgendwie zum Hochofen, findest du nicht?«
Pielkötter brummte.
»Im letzten Jahr war ich hier in der Nacht der Industriekultur«, fuhr Jan Hendrik fort. »Zur Extraschicht. Schöner Name für das Großevent, findest du nicht auch? Da ging hier vielleicht die Post ab, besonders in der alten Gebläsehalle. Eigentlich wollte ich mit Sebastian noch zur Zeche Zollverein, also mindestens bis zum Duisburger Innenhafen. Aber wir sind hier hängengeblieben.«
»Ich kann jetzt leider nicht hier hängenbleiben, ich muss los«, entgegnete Pielkötter mit Blick auf seine Uhr. »Lass dich mal
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