Die Sünderinnen (German Edition)
Freundinnen gefunden. Heute Abend hatte eine der Kolleginnen sie zu sich nach Hause eingeladen, und Marion Karsting war stolz darauf. Klaus Eberhard hätte solche Freundschaften niemals geduldet. Sofern sie es gewagt hätte, sich mit anderen Menschen zu treffen, hätte er sie ganz sicher mit Schlägen bestraft.
Tina Turners Song war ausgeklungen, der Radiosprecher gab eine witzige Begebenheit zum Besten, als Marion Karsting in die Tiefgarage ihrer Wohnanlage fuhr. Eigentlich hatte sie sich an die um diese Uhrzeit unbelebte Tiefgarage gewöhnt. Nun jedoch hasste sie den Widerhall ihrer Absätze auf dem harten Betonboden als einziges Lebenszeichen, nun, da dieser Mann sie im Wald bedroht hatte. Natürlich hätte sie auch die Verabredung ausschlagen können, aber sie wollte nicht, dass die Angst gewann. Schließlich hatte sie sich nicht von Klaus Eberhard getrennt, um ihre Freiheit aus demselben Grund wieder einzubüßen, nämlich aus Angst vor Gewalt.
Vorsichtig schlängelte sie sich an den fast ausnahmslos besetzten Parkbuchten entlang. Anscheinend saßen ihre Nachbarn vor ihren Flimmerkisten oder hielten sogar schon Nachtruhe. Sie kam selten um diese Uhrzeit nach Hause. Sie hoffte, dass ihr deshalb die Atmosphäre heute anders erschien, irgendwie unheimlich. Vielleicht war die spärliche Beleuchtung schuld. Niemals hatte sie die Tiefgarage als so dunkel empfunden. Wahrscheinlich schaltete sich die Beleuchtung um dreiundzwanzig Uhr auf eine Art Sparschaltung um. Nun, von solchen Kleinigkeiten wollte sie sich nicht die Laune verderben lassen. Immerhin hatte sie seit dem Überfall im Wald den ersten netten Abend verlebt. Der erfreuliche Besuch schrie förmlich nach einer Fortsetzung.
Sie erreichte die Parkbucht, stellte den Motor ab und blieb noch eine Weile in dem Wagen sitzen. Plötzlich stellte sie sich vor, dass Klaus Eberhard hier unten auf sie wartete und über ihre geheimen Ängste lachte. Entschlossen öffnete sie die Wagentür und stieg aus. Sie wollte gerade den Wagen abschließen, als sie ein leises Geräusch hörte, kaum mehr als das Klicken eines Feuerzeuges in der Ferne. Beunruhigt blieb sie stehen und lauschte. Auf einmal sah sie es wieder vor sich, dieses vermummte Gesicht des Mannes, dessen hasserfüllter Blick sie bis in ihre Träume verfolgte.
Ein weiteres Geräusch schreckte sie aus ihren schrecklichen Erinnerungen auf. Am liebsten wäre sie zum Aufzug gerannt, aber die Angst hielt sie zurück. Merkwürdigerweise fühlte sie sich in der Nähe ihres Wagens sicherer. Immerhin könnte sie jederzeit wieder in ihren Fiat steigen, die Türen verriegeln und wegfahren. Für einen kurzen Moment geriet sie in Versuchung, dies wirklich in die Tat umzusetzen, doch dann entschied sie sich anders. Sie wollte nicht für immer ihren Ängsten und Problemen davonlaufen. Was hatte der Psychologe Mark Milton ihr noch gleich mit auf den Weg gegeben. In jeder Überwindung steckt ein Sieg. Das war vielleicht nicht von ihm, aber es gefiel ihr. Ihre Angst war wirklich irrational, genauso wie das Gefühl, nicht allein in dieser Tiefgarage zu sein.
Die Chance, zweimal hintereinander überfallen zu werden, konnte sie getrost mit einem Sechser im Lotto vergleichen. Ein gurrender Laut, der an ein missglücktes Lachen erinnerte, entfuhr ihrer Kehle. Kurz danach hörte sie wieder ein Geräusch, so als hätte etwas Weiches wie Gummi gegen Metall geschlagen. Das Geräusch kam aus der Wagenreihe, die ihrer Parkbucht gegenüberlag. Sie musste jetzt schnell eine Entscheidung treffen, aber welche war die richtige? Lähmende Angst überfiel sie. Dann hatte sie sich entschieden. Sie rannte so schnell sie konnte zum Aufzug, der sich genau am Ende ihrer Parkreihe befand. Ihre hohen Absätze klapperten auf dem harten Betonboden und übertönten jeden anderen Laut.
Natürlich stand der Aufzug nicht unten bereit. Sie drückte auf den Knopf, der ihn holen würde, dann sah sie nach hinten. Zwar konnte sie niemanden entdecken, doch sie war jetzt sicher, nicht allein hier unten zu sein. Das leise Rattern des nahenden Aufzuges überlagerte nicht alle Geräusche. Ganz sicher hatte sie noch etwas anderes vernommen. Plötzlich verspürte sie einen Luftzug und dann sah sie den Mann. Sie erkannte die Maske, die hasserfüllten Augen und schrie. Abrupt ging der Schrei unter. Genau wie bei dem Überfall im Wald presste der Mann seine große Hand auf ihren Mund. Auch jetzt roch sie nach Desinfektionsmittel. Sie wusste nicht, ob ihr der stechende Geruch
Weitere Kostenlose Bücher