Die Süße Des Lebens
würden sich beeilen, den Rost von den Kufen der Eislaufschuhe ihrer Kinder zu schleifen. Das Mädchen hatte ihn jedenfalls angesehen und in seinen Augen war ganz kurz ein anderer Ausdruck gewesen als während der Stunde davor. Er wusste noch, dass er sich gefragt hatte, ob sie beide vielleicht in diesem Moment die einzigen Menschen in dieser Stadt gewesen waren, die ans Schwimmen gedacht hatten.
Oben auf dem Wipfel einer Säulenthuje saß ein Tannenhäher und schlug Lärm. Horn blieb stehen und versuchte einen Schneeball zu formen, doch er zerfiel ihm in der Hand. In seiner Kindheit hatte es all diese Vögel auch gegeben: Tannenhäher, Wacholderdrosseln und Wiedehopfe. Stundenlang war er vor dem Küchenfenster gesessen und hatte zur Lärchengruppe hinter dem Garten hinübergeschaut, zum Vogelhaus, das dort auf einen Holzpfahl gepflanzt worden war. Sein Vater hatte ihm nach und nach die Namen beigebracht: Haubenmeise, Gimpel, Seidenschwanz. Er dachte an Heidemarie und daran, wie sie gesagt hatte, sie habe manchmal das Gefühl, am Ende bleibe von ihr ein leerer Sack übrig, sonst nichts. Was man so großspurig Identität nannte, war in Wahrheit eine schwer bestimmbare Angelegenheit, die mit all den Dingen zu tun hatte, die im Lauf der Zeit in einen hineingestopft wurden. Bei ihm selbst gehörte zum Beispiel ein Schwarm Seidenschwänze dazu, der viel zu weit westlich von der üblichen Route in seinen Kindheitsgarten eingefallen und eineinhalb Tage lang dortgeblieben war. Er konnte sich erinnern, wie sein Vater, der Biologie unterrichtet hatte, völlig außer sich gewesen war. Die Vögel hatten Federhauben gehabt, bunte Streifen an den Flügeln und beinah keine Angst. Er war damals acht oder neun Jahre alt gewesen und hatte sich vorgestellt, einen der Seidenschwänze einzufangen, ihm einen ganz langen Faden ans Bein zu binden und ihn so fliegen zu lassen wie einen Drachen.
Er fragte sich, ob Heidemarie mit den neuen Tabletten besser schlafen konnte oder nach wie vor wach lag und in die Gefühlsleere ihrer Eltern hineingezogen wurde wie in einen riesigen schwarzen Trichter. Er fragte sich, warum Söhne ihre Mütter ermordeten, Töchter aber nicht, und warum manche Menschen Selbstmordphantasien als ungeheure Entlastung empfanden. Zu Silvester bringen sich die Leute dann um, dachte er. Silvester war in drei Tagen.
Mit der Reihenhausanlage endete auch der Gehsteig. Die Straße verengte sich, führte aber in derselben Richtung weiter. Ein untersetzter Mann mit einem Pitbull an der Leine kam ihm entgegen. Es war Konrad Seihs, der Sekretär der städtischen Wirtschaftspartei. Sie grüßten einander höflich. »Faschistoide Sau«, murmelte Horn, als Seihs weit genug weg war. Der Mann wurde als nächster Stadtrat für Innere Verwaltung und Sicherheit gehandelt. Er war Berufssoldat gewesen, bevor er in den Dienst der Partei getreten war. Er setzte sich unter anderem für verstärkte Polizeistreifen in den Sozialsiedlungsgebieten der Stadt ein. Horn und er waren vor Jahren bei einer Diskussionsveranstaltung zum Thema Behindertenbetreuung heftig aneinandergeraten. Letzten Endes hatte Irene eine Eskalation verhindert. »Wo ist deine professionelle Distanz?!«, hatte sie ihm zugeraunt und ihn fest am Unterarm gepackt. »Er ist nicht mein Patient«, hatte er geantwortet. »Stell dir vor, er wäre es«, hatte sie gesagt und er hatte tatsächlich aufgehört, Seihs verbal zu attackieren. Später hatte er darüber nachgedacht und es war ihm klar geworden, dass es natürlich nichts veränderte, den Bundeskanzler als narzisstisch gestörte Persönlichkeit zu sehen oder den Wirtschaftsminister als Zwangsneurotiker mit einer prägenitalen Grundstruktur, aber im Moment hatte es geholfen. Schmidinger fiel ihm ein und er stellte sich vor, dass Leute wie er und Seihs am Abend im Klubhaus des WSV an der Bar hockten und erst übers Thailänderinnenficken sprachen, danach über den Ärger mit den Asylanten und darüber, dass man nicht wusste, welcher Teil der sogenannten Jugendszene in der Walzwerksiedlung in Wahrheit Drogenhandel und illegaler Straßenstrich waren. Er hatte Schuldgefühle, wenn er an Schmidinger dachte, einerseits wegen seiner Frau und seiner Töchter, andererseits wegen seines eigenen heftigen Wunsches, den Mann niederzuspritzen und wegzusperren. »Ich bin Arzt«, sagte er zu sich selbst. Er wusste zugleich, dass das gar nichts nützte.
Das Haus von Joachim und Else Fux stand direkt am Mühlaubach, so knapp, dass der tiefer
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