Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Süße Des Lebens

Die Süße Des Lebens

Titel: Die Süße Des Lebens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paulus Hochgatterer
Vom Netzwerk:
hat und sie zirka jeden zweiten Sonntag besucht.
    Die Luft ist trocken und vollgepackt mit Frost. Manchmal hat er solche Bilder: die Luft im Hochwinter, die aus nichts anderem besteht als aus dicht übereinandergestapelten hellblauen Quadern. Oder die feinen Gänge, die sich unter der Oberfläche durch den Schnee ziehen, kilometerlang, und winzige Lebewesen laufen in ihnen mit unvorstellbarer Geschwindigkeit von hier nach dort.
    Das Gebäude ist von dieser spezifischen Hässlichkeit österreichischer Pensionistenheime. Wenn man gerecht sein möchte, muss man einräumen, dass die Pensionistenheime in der Schweiz oder in Deutschland oder in Norwegen möglicherweise auch so hässlich sind; er kennt sie nicht. Nein, in Norwegen aller Wahrscheinlichkeit nach am wenigsten, in Deutschland schon. Jede Menge Balkone jedenfalls, deren Betreten streng verboten ist, weil man fürchtet, die alten Menschen klettern irrtümlich über diese grünen Brüstungen und stürzen in den Tod. Ein Eingangsbereich, in dem Yucca-Palmen und riesige Ficus-sowieso-Exemplare aus Hydrokulturtonkügelchen zum Licht leistungsstarker Pflanzenleuchten emporstreben, Stoffpapageien auf Holzstäbchen sitzen und in der Empfangskoje jemand hockt, für den alle, die bei der Tür reinkommen, eine Zumutung sind.
    Er besucht hier Menschen, die sonst niemand besucht, Franziska Zillinger aus Mooshaim und Leopold Rödl aus Furth; wobei Leopold Rödl derzeit wegen der Durchblutungsstörungen an seinen Beinen im Krankenhaus liegt. Ab und zu hält er einen Gottesdienst in der Kapelle des Heimes, an dem dann kaum jemand teilnimmt.
    Franziska Zillinger ist achtundneunzig und fast blind. Ihre Tochter ist vor einigen Jahren an Herzversagen gestorben, das heißt, in Wahrheit an ihrer extremen Fettleibigkeit, und ihre Enkelin, die eine erfolgreiche Bankangestellte ist, hat keine Zeit, sie zu besuchen. Frau Zillinger liebt Kirchenlieder, das macht die Sache ziemlich einfach. Er summt ›Ein Haus voll Glorie schauet‹, als er ihre Wohneinheit betritt, und sie sagt: »Jö – ein Haus voll Glorie schauet«, und fängt schon an zu singen. Sie kann schätzungsweise acht bis zehn Strophen; er kann drei, aber das macht nichts. Beim Refrain wird sie dann unglaublich inbrünstig und das ›O lass im Hause Dein uns all’ geborgen sein‹ jauchzt sie in die Welt, als gelte es, sich auf der Stelle die ewige Seligkeit zu ersingen.
    »Wie geht es Ihnen, Frau Zillinger?«, fragt er. Sie wendet ihm das Gesicht zu und ihre rechte Hand wandert in seine Richtung. Die Hand hat etwas von einem alten Zweig. »Wenn Sie da sind, Herr Kaplan, geht es mir gut.« Obwohl er keiner ist, mag er die Anrede ›Herr Kaplan‹ gerne. Sie hat einmal einen Kaplan gekannt, denkt er. Er stellt sich vor, wie sie sich ineinander verliebt haben, und es war wie in einem Heimatfilm. Sophie drängt sich in diesem Moment nicht herein. Er wundert sich beinahe darüber, aber manchmal gibt es da eine gewisse Distanz. Er schaut in diese Augen mit den weißlich trüben Linsen und fragt sich, ob die Iris bei alten Leuten generell wieder blau wird wie bei kleinen Kindern oder ob das nur Einbildung ist.
    Er erzählt ihr vom bevorstehenden Jahreswechsel und sie sagt, Silvester habe sie nie gemocht und seitdem sie nichts mehr sehe, gehe ihr die ganze Knallerei besonders auf die Nerven; obgleich es hier in Waiern nicht so schlimm sei wie seinerzeit in Mooshaim, wo sie ganz nahe am See gewohnt hätten, unmittelbar neben der Mole, von der um Mitternacht das große Feuerwerk abgeschossen worden sei. Die Katzen seien tagelang nicht unter den Schränken hervorgekommen, jedes Jahr das Gleiche. Ob es ihr letztes Silvester sein werde, frage sie sich inzwischen nicht mehr, denn seit dem Verlust ihrer Tochter sei das alles ohne Bedeutung. Mit dem Tod ihres Mannes kurz nach dem Krieg sei ihr das Glück abhanden gekommen und mit dem Tod ihrer Tochter der Lebenssinn, das sei die Wahrheit. »Das mit ›im Hause Dein geborgen sein‹ ist wie ein schönes Märchen«, sagt sie, »man stellt sich ein Haus vor, in dem alle beisammen sind und fröhlich, und fühlt sich nicht so alleine. Einfach ein Märchen. Aber so etwas dürfte ich einem Priester wahrscheinlich nicht sagen.«
    In seinem Kopf beginnt etwas im Kreis zu sausen. Er merkt, dass er sich noch gut dagegenstemmen kann. Er fragt sich zwei Dinge: Erstens: Was ist in letzter Zeit passiert? Zweitens: Was ist in meinem Leben von Bedeutung? Die Regel, der Erlöser, die Frau und das Kind.

Weitere Kostenlose Bücher