Die Süße Des Lebens
»Haben Sie eigentlich jemanden gekannt, der Sebastian Wilfert heißt?«, fragt er.
Erst huscht etwas über das Gesicht der Frau, wie eine Brise, flüchtig und unbestimmt, dann ist es, als würde jemand unter ihre Ellbogen fassen und sie langsam aufrichten. Schließlich sitzt sie da in ihrem Lehnstuhl, die Augen weit aufgerissen und die Finger in die Armstützen gekrallt. Sie sieht aus, als sei ihr eben der Teufel begegnet, denkt er. Nach einer Weile entspannt sich ihr Gesicht wieder und sie sinkt in sich zusammen. Sie schüttelt den Kopf. »Nein, ich habe niemanden gekannt, der so heißt«, sagt sie leise, »aber mein Mann. Damals.«
»Es ist ihm jemand über den Kopf gefahren, wahrscheinlich mit einem Traktor«, sagt er. Sie schließt die Augen und sagt nichts.
Die Tasche mit der Hose, dem Sweater und den Schuhen steht auf dem Rücksitz. Der iPod liegt im Handschuhfach. Er muss hier weg. Er muss laufen, egal wohin.
Zehn
Dieses Jahr endet nicht gut, dachte Raffael Horn. Er streckte sich aus der Bauchlage nach rechts und versuchte zum Hörer zu gelangen. Er hatte geträumt, völlig außer Atem einen Bahnhof zu erreichen und dann zu sehen, wie ihm der Zug vor der Nase davonfuhr. Sein Herz raste. Der Digitalwecker auf seinem Nachtkästchen zeigte vier Uhr siebenundvierzig.
Lili Brunner war dran. Sie sprach gepresst. »Raffael, es tut mir leid, aber ich glaube, du musst kommen.« Es gehe um Caroline Weber. Sie sei seit dem früheren Abend immer gespannter und paranoider geworden. Unter anderem habe sie unentwegt behauptet, ihre kleine Tochter stehe unten vor dem Tor und warte nur, bis sie hereinschlüpfen könne. Unsichtbar, wie sie sei, werde sie auf die Station kommen und ihr die Seele aus dem Leib reißen. Man habe alles probiert, um die Frau zu beruhigen, dichte persönliche Assistenz und jede Menge Medikamente, ohne Erfolg. »Wo ist sie jetzt?«, fragte Horn.
»In der Küche.«
»Wie kommt sie dorthin?«
»Sie hat Lydia eine mit dem Ellbogen verpasst und ist hinein – mit Lydias Schlüssel.«
Lydia war eine chilenische Krankenschwester, höchstens einssechzig groß, aber trotzdem eine Kämpferin. Wer gegen ihren Willen an ihr vorbeigekommen war, hatte wohl einiges an Energie besessen.
»Habt ihr den Schlosser verständigt?«
»Sie sagt, wenn irgendjemand an der Tür manipuliert, schneidet sie sich die Pulsadern auf.«
»Holt ihn trotzdem. Er soll warten, bis ich da bin«, sagte Horn und legte auf.
Irene hatte sich neben ihm aufgerichtet und schaute ihn schlaftrunken an. »Wer?«, fragte sie. »Caroline Weber«, sagte er.
»Ist es ernst?«
»Wenn die Brunner am Telefon ihre Beunruhigung nicht verbergen kann, ist es ernst.«
»Sei nett zu ihr«, sagte sie.
»Zu wem?«
»Zu Frau Weber. Sie hält ihr Kind für den Teufel.«
Sie küsste ihn auf die Wange, bevor er ächzend aus dem Bett stieg. Sie merkt sich alles, dachte er, und ich erzähle ihr viel zu viel.
Minus dreizehn Grad auf der Außentemperaturanzeige des Volvo, am Himmel keine Wolke. Stabile Hochdrucklage. Laut Wetterbericht würde sich in den nächsten Tagen nicht viel ändern. Caroline Webers Krise war rein psychometeorologisch nicht erklärbar. Horn fuhr die Kurven abwärts bis zur Bundesstraße bewusst langsam. Es ist fünf Uhr früh und ich rechne mit Wildwechsel, dachte er, ich werde alt. Eine Sternschnuppe raste in flachem Bogen über den Himmel und verschwand hinter der Firstlinie der Kammwand. Er wusste, er sollte sich etwas wünschen, doch außer einem Bett fiel ihm nichts ein.
Die Tankstelle an der Westeinfahrt war in grünliches Nachtlicht getaucht. Er hatte den Eindruck, als bewege sich zwischen den Zapfsäulen eine Gestalt. Ich sehe Gespenster, dachte er, ich träume ständig von der Eisenbahn und bin nicht imstande, mir etwas wirklich Vernünftiges zu wünschen.
Der Portier wandte den Blick kurz von seinem Fernsehgerät und hob die Hand zum Gruß. »Der Schlosser wird auch gleich da sein«, sagte er. Warum müssen Portiere immer alles wissen?, fragte sich Horn, ich hätte den Nebeneingang nehmen sollen, wie immer. Aus dem Lift kamen zwei Rettungsleute mit einer leeren Rollbahre. Er betrat die Kabine und drückte auf den Knopf. Er war zu müde zum Stiegensteigen und außerdem wurden um diese Tageszeit glücklicherweise sämtliche Zwangsrituale von selbst außer Kraft gesetzt.
Vor der Tür zur Küche saß Hrachovec, ein langer dünner Turnusarzt, und hielt Wache. Er stand auf, als er Horn die Station betreten sah.
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