Die Sumpfloch-Saga Bd. 2 - Dunkelherzen und Sternenstaub
und zündete sich eine magikalische Lampe an, damit sie hier nicht sinnlos im Dunkeln herumhockte. Doch das zarte, rosafarbene Licht änderte nichts daran, dass sie über ihre Bücher hinwegstarrte und etwas ganz anderes tat als lesen. Ihre Gedanken drehten sich im Kreis, ungefähr so: Er ist ein Spion, er will mich nur aushorchen, aber vielleicht mag er mich ja wirklich? Man kann doch nicht so lachen und jemanden so angucken, wenn man es kein bisschen ernst meint?
Andererseits gab es keine Erklärung für sein Verhalten, zumal sie ihn nie ermutigt hatte, nett zu ihr zu sein und sie zu mögen. Viel wahrscheinlicher war es doch, dass er, dem immer alle Mädchenherzen zuflogen, die Herausforderung liebte. Eine Kratzbürste wie Scarlett ließ sich nicht so leicht erobern, was sie interessant machte. Aber wenn ihr Herz erst einmal geschmolzen wäre (was niemals passieren durfte), dann wäre die Spannung dahin für den guten Gerald. Die volle Punktzahl im schwierigsten Spiel der Welt, super, und abgehakt wäre Scarlett. Natürlich, das war es: Er wollte sie weich klopfen und wenn es ihm gelänge, würde er begeistert in den Spiegel gucken, sich über den weichen Pulli aus Fulminwolle streicheln und das teure Duftwasser inhalieren, mit dem er sich immer einparfümierte, und zu sich selbst sagen:
‚Gerald, was bist du doch für ein cooler Typ! Selbst die Hexe mit dem Herzen aus Stein verfällt dir hoffnungslos!’
Nein – nein, so war er nicht. Er mochte ein bisschen angeben von Zeit zu Zeit, aber er war nicht in sich selbst verliebt. Scarlett musste ihn vor ihren eigenen Gedanken in Schutz nehmen. Was dazu führte, dass sie in eine verträumte Stimmung geriet, als könnte das tatsächlich was werden mit ihr und ihm. Sie sah vor ihrem geistigen Auge, wie sie ihren Kopf an Geralds Schulter lehnte und sich geborgen fühlte. Was natürlich eine vollkommen lächerliche Vorstellung war!
Sie knallte das Buch zu, in dem sie den ganzen Nachmittag nicht gelesen hatte, und griff nach der magikalischen Lampe, um die Bibliothek zu verlassen. Fragte sich nur, wohin. Im Hungersaal war sie nicht sicher, Gerald konnte jeden Moment dort auftauchen und sie in ihrer Verwirrtheit ertappen. Lieber zog sie sich in ihr kaltes Zimmer zurück, wo sie ganz bestimmt alleine wäre, und dort würde sie tun, was sie schon lange vorhatte: Sie wollte die schwere Kiste, in der uralte Teppiche und Vorhänge vor sich hin schimmelten, auf den Flur hinausschleifen, sodass sie und ihre Freundinnen mehr Platz im Zimmer hätten, und danach wollte sie alle Möbel umstellen. Es war höchste Zeit: Das neue Schuljahr begann ja schon morgen!
Die magikalische Lampe erlosch wie so oft, kaum dass Scarlett den Gebäudeteil mit den ungeraden Zimmernummern erreicht hatte. In diesem Teil der Festung war es am kältesten, feuchtesten und unheimlichsten, weil sich nämlich immer wieder kleine Geschöpfe aus dem Wald hier hereinschlichen, aber niemand dafür sorgte, dass sie wieder rausgeworfen wurden. Man erzählte sich die Geschichte von der Unhold-Familie, die irgendwo zwischen dem zweiten und dritten Stock in einem unauffindbaren Hohlraum hauste und mit Vorliebe die Bettdecken der Schüler klaute, in den Klos planschte, den Putz von den Wänden fraß und nachts in den Gängen Schädel-Bowling spielte (mit welchen Schädeln auch immer – man hörte sie nur, man sah sie nie, und deswegen war die Sache mit den Schädeln eher zweifelhaft). Nun hatte Scarlett keine Angst vor Unholden, schließlich gab es da einen, der im letzten Schulhalbjahr regelmäßig in ihrem Zimmer geschlafen hatte. Aber manchmal drückten sich hier auch Schatten herum, Geister oder Tiermenschen, die ihre menschliche Seite vergessen hatten, was durchaus gefährlich werden konnte. Unter Umständen. Meist waren sie einfach froh, wenn man sie in Ruhe ließ, und dafür hatte Scarlett großes Verständnis.
Mit ihrer Lampe, die nicht mehr leuchtete, stieg Scarlett in den sechsten Stock und weil sie sich mittlerweile gut auskannte, fand sie auch ohne Licht die Leiter, die unters Dach führte, dahin, wo sich das Zimmer 773 verbarg. Es war komisch mit der Dunkelheit, dachte Scarlett an diesem Abend. Wenn man sich in ihr auskannte, wenn man sie gründlich bewohnte, dann verlor sie ihren Schrecken. Sie verlieh Scarlett sogar eine gewisse Stärke: Denn in dieser Dunkelheit, die ihr vertraut war, war sie gegenüber denen, die Licht brauchten, im Vorteil. Alles Fremde, was nicht hierher gehörte, offenbarte
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