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Die Tänzerin im Schnee - Roman

Die Tänzerin im Schnee - Roman

Titel: Die Tänzerin im Schnee - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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ein Student behauptete, noch nie etwas von Djagilew, Brodsky oder Vanessa Bell gehört zu haben. »Du wirst mir fehlen«, seufzte Grigori.
    »Mir auch«, fügte Evelyn pflichtgemäß hinzu.
    »Das werde ich, und dann, nach einer Weile, werde ich euch nicht mehr fehlen.« Zoltan schenkte sich mit zittrigen Händen einen Scotch ein. »Es ist einfach an der Zeit für mich, nach Hause zu gehen.«
    »Mir war gar nicht bewusst, dass du vorhattest zurückzugehen.«
    »Das hatte ich auch nicht. Aber es ist merkwürdig, als ich angefangen habe, wieder in meinen Tagebüchern zu lesen, wurde etwas in meinem Geist angestoßen. Ich begann mich zu erinnern. Ich habe so vieles aus meinem Gedächtnis gelöscht. Zu Weihnachten bin ich mit der Straßenbahn gefahren und habe all die geschmückten Tannenbäume in den Fenstern gesehen, und da musste ich das erste Mal seit Jahrzehnten – Jahrzehnten! – an eine Süßigkeit von früher denken, die in raschelnde Folie gewickelt war. Wir haben damit unsere Weihnachtsbäume geschmückt. Und einen ganzen Tag lang konnte ich mich nicht an den Namen erinnern. Da wusste ich, dass es Zeit wird, zurück in die Heimat zu gehen.«
    Grigori nickte. Er kannte dieses Gefühl, diesen Drang – doch was für eine Heimat gab es noch für ihn, Grigori? Seit Christines Tod hatte er sich diese Frage gestellt. In letzter Zeit hatte er sogar über einen Umzug nachgedacht – er wollte jedoch Boston nicht verlassen, sondern nur etwas Kleineres finden, vielleicht irgendwo eine Wohnung kaufen.
    »Wie heißt sie denn?«, fragte Evelyn. »Die Süßigkeit.«
    »Szaloncukor!«
Grigori sah kindliche Freude in Zoltans Augen aufblitzen. »Ich stelle es mir ganz unglaublich vor, in ein Land zurückzukehren, aus dem ich einmal fliehen musste. Dass ich dort mittlerweile sagen kann, was ich will, ohne um mein Leben zu fürchten. Oder vielleicht wird es sich gar nicht so anfühlen; womöglich kommen all dieErinnerungen zurück. Wenn man hier lebt, vergisst man, wie es war. Nicht nur für mich. Für jeden Intellektuellen. Man schwebte täglich in Lebensgefahr. Musste ständig auf der Hut sein. Einfach nur, weil man war, wer man war – mochte, was man mochte, und bestimmte Dinge verstand.«
    Grigori dachte darüber nach. Was Zoltan erreicht hatte, war in der Tat erstaunlich, auch wenn es klein und unauffällig schien und auch wenn er lediglich eine Fußnote in einer langen Erfolgsgeschichte war, in der die Kunst sich immer wieder auch im Angesicht von autoritären Regierungssystemen behaupten konnte. Und der Gedanke daran, dass er als Verwalter von Zoltans literarischem Nachlass selbst ein kleiner Teil dieser Geschichte sein könnte, gab ihm Auftrieb. Wenn er doch nur einen Übersetzer und einen Verlag für Zoltans Spätwerk finden würde. Es würde ein langwieriges Projekt werden, so viel stand fest – aber was wäre das Leben schon ohne solche Herausforderungen?
    Zoltan fuhr fort: »Auch wenn dieses Land für lange Zeit zu meiner Heimat geworden ist, ist es doch eine andere Art von Heimat. Ich bin mir nicht sicher, ob ich je wirklich dazugehört habe. Heute Morgen habe ich in meinem Tagebuch gelesen – Evelyn, ich weiß nicht, ob Grigori erwähnt hat, dass ich an meinen Memoiren schreibe. Ich habe mir Einträge aus der Zeit durchgelesen, als ich gerade in Amerika angekommen war, und es war so seltsam zu sehen, was ich damals alles wahrgenommen habe, das mir jetzt gar nicht mehr auffällt. Ich hatte davor schon eine Weile in London gelebt und hätte nicht gedacht, dass mir die Vereinigten Staaten so völlig anders erscheinen würden. Aber von der Minute an, in der ich aus dem Flugzeug stieg, waren die Unterschiede deutlich sichtbar.«
    »Kannst du ein Beispiel nennen?«, wollte Evelyn wissen.
    »Ach ja, alle rennen herum und gestikulieren die ganze Zeit; es ist alles so körperlich. Hier ist jeder andauernd in Eile.«
    »In England hatte es niemand eilig?«
    »Dort zeigt man seine Gefühle nicht so offen wie hier. Amerikaner kennen keine Zurückhaltung. Sie schimpfen und fluchen und klopfen sich gegenseitig auf den Rücken. Ich hatte so etwas vorher noch nie gesehen.«
    Grigori nickte, da auch er sich an diese Empfindung von Fremdheit erinnern konnte. »Für mich waren es die Häuser. Ich werde nie vergessen, wie ich zum ersten Mal ein amerikanisches Vorstadthaus sah. Ich konnte nicht glauben, wie groß es war. Und dass es Räume gab, die die Leute darin nicht einmal benutzten. ›Gästezimmer‹.« Er schüttelte lachend

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