Die Tänzerin im Schnee - Roman
nur ein Fehler, der arme Gersch, er war eben verwirrt, das ist alles. Er wird nun Anleitungen brauchen, muss manche Dinge neu lernen, versteht ihr? Das ist wirklich kein schlechter Ort.«
Viktors Gesicht ist ausdruckslos, während Nina versucht, aus Zojas Aussagen klug zu werden. Warum sollte es ein Verbrechen sein, über die Impressionisten oder Picasso nachzudenken? Wie konnte das schwerwiegend genug sein, um Gersch in ein psychiatrisches Gefängnis zu sperren?
»Ach, und ich habe ja noch mehr Neuigkeiten.« Zoja lächelt geziert und wartet darauf, dass sie nachfragen. »Seine Haftzeit wurde verkürzt. Auf nur noch fünf Jahre.«
»So schnell«, ruft Viktor. »Das ist wunderbar.«
Wunderbar
. Nina bringt es nicht fertig, ihm zuzustimmen.
Nur
fünf Jahre – mit dünnem Haferschleim am Morgen, Suppe am Mittagund Brot und Wasser am Abend; das haben sie zumindest laut Mutter Ninas Onkel gegeben. Aber Nina wird klar, dass das natürlich einer ihrer Winkelzüge ist: die Haftzeit wird verkürzt, damit der Gefangene und seine Familie Dankbarkeit anstelle von Zorn empfinden, Erleichterung anstelle von Empörung. Das Gleiche war mit ihrem Onkel passiert. Aber auch eine verringerte Haftzeit war noch nicht kurz genug. Er starb, bevor sie ihn nach Hause schicken konnten.
»Dieses Rehabilitationslager ist wirklich eine sehr gute Einrichtung. Der Direktor hat sogar einen Abschluss in Psychiatrie. Sie haben ein komplettes System erarbeitet, um ihren Patienten zu helfen. Der arme Gersch! Ich hätte die Anzeichen erkennen müssen. Er hatte ja wirklich ziemlich verrückte Ansichten, das war mir nur nicht so bewusst. Aber jetzt ist alles in Ordnung, sie werden ihm helfen.«
Das glaubt sie doch nicht im Ernst, denkt Nina. Sie tut doch bloß so, als ob. Ja, das muss es sein; das Ganze ist nur Theater, eine Vorstellung, ein Tanz. Ein Tanz, den sie alle vorführen müssen, immer wenn sie sich bemühen, nur die richtigen Dinge zu sagen.
Oder versteht Zoja tatsächlich nicht, was Nina mit jedem Tag klarer erkennt? Es ist ein so furchtbarer Gedanke, von dem sie aber doch mit jeder verstreichenden Minute überzeugter ist: dass alles nur ein großer, schrecklicher, böser Scherz ist.
Als sie ein paar Wochen später von der Probe nach Hause kommt, trifft Nina Madame wie üblich am Tisch sitzend an. Aber diesmal zählt sie nicht ihr Tafelsilber, sondern hat eine offene Pappschachtel vor sich gestellt. Darin kann Nina Schmuck erkennen: Bernstein in Goldfassung. Große, dicke Tropfen, wie in goldene Folie gewickelte Bonbons.
Sie macht drei einzelne Stücke aus: Halskette, Ohrhänger und ein Armband. Nina würde sie gern anfassen und ihr Gewicht auf der Hand spüren.
Als sie bemerkt, dass Nina auf den Schmuck aufmerksam geworden ist, lächelt Madame befriedigt. »Sie mussten poliert werden.«
»Sind das Ihre?« Madame hat sich immer beklagt, dass ihr Schmuck nach der Revolution gestohlen worden sei, und behauptet, sie besitze lediglich noch ihre Ohrringe und Perlen sowie den diamantenbesetzten Schildpattkamm. »Woher stammen sie?«
»Viktor hat sie mitgebracht.«
»Viktor?« Nina beugt sich weiter vor, denn nun sieht sie, dass die Tropfen nicht nur aus Bernstein und Gold bestehen. In den Ohrringen erkennt sie winzige Flecken, die bei näherer Betrachtung wie Mücken aussehen.
»Du darfst meine Lorgnette benutzen.« Madame überreicht Nina die kleinen Brillengläser.
Vergrößert sind die Flügel der Insekten deutlich sichtbar. Nina hält die Gläser über das Armband und entdeckt darin noch mehr Mücken, eine winzige Fliege, dann eine ebenso kleine Motte, deren pelziger Körper mit den beinahe durchsichtigen Flügeln gut zu erkennen ist.
»Viktor hat sie mitgebracht?« Nina fragt sich, wann das gewesen sein soll, da er den größten Teil der Woche zum Ausruhen und Arbeiten in Peredelkino verbracht hat. Sie hofft, dass ihn der Tapetenwechsel aufheitern wird. Seit Gerschs Festnahme war er so niedergeschlagen und hat mehr getrunken als sonst. Nina hat nichts zu ihm gesagt wegen des Trinkens. Aber sie macht sich Sorgen.
»Er wollte sie in meinem Zimmer aufbewahren, um sie zu verstecken – oh –« Madame macht ein übertrieben erschrockenes Gesicht, als ob ihr gerade etwas eingefallen wäre. »Ich glaube, es sollte ein Geheimnis sein.«
Sie ist sichtlich glücklich darüber, die Überraschung ruiniert zu haben. Es scheint, als könnte sie es nicht lassen, Nina ab und zu in irgendeiner Weise einen Stoß zu versetzen und dabei zu
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