Die Tänzerin im Schnee - Roman
testen, wie weit sie gehen kann. Erst letzte Woche hat sie aus heiterem Himmel den Blick zur Seite gewendet und wie zu sich selbst, jedoch mit Absicht so laut, dass Nina es mitbekam, gesagt: »Mir war Lilja lieber.«
Obwohl Nina eine altbekannte Wut in sich aufsteigen fühlt, erinnert sie sich wie immer daran, dass sie nichts dagegen tun kann. Was macht es schon, dass Madame ihr den Bernsteinschmuck gezeigt hat? Die Überraschung ist doch nicht das Wichtigste; was Nina rührt, ist die schlichte Tatsache, dass Viktor diesen Schmuck gesehen und dabei an sie gedacht hat. Ihr Hochzeitstag steht kurz bevor, was auch Madame bewusst ist. Der Bernstein muss unfassbar teuer gewesen sein. Vielleicht hat Viktor das Gefühl, er müsse sich jedes Mal selbst übertreffen.
»Ach, na schön«, ruft Madame theatralisch. »Was kann ich jetzt noch tun, nachdem du sie nun einmal gesehen hast? Wir dürfen es Viktor nur nicht erzählen.«
Nina beißt sich auf die Lippen und verkneift sich eine Antwort. Mit Hilfe der Lorgnette untersucht sie den Stein an der Halskette. Er ist größer als die anderen. In ihm befindet sich eine Spinne mit kurzen Beinen, die mitten in der Bewegung erstarrt ist, und unter ihr, wie ein winziger Ballon, ihr Eikokon. So, wie er sich direkt unter dem Körper der Spinne aufbläht, wirkt er wie ein einziges großes weißes Ei. Eine winzige Kreatur ist dabei, neues Leben zu erschaffen – und dieser Akt wird verhindert durch das Harz, das ihn zugleich für alle Ewigkeit konserviert. Nina betrachtet den Stein ausgiebig und weiß dabei, dass sie gerade die letzten Augenblicke, den Akt des Sterbens eines anderen Wesens beobachtet. Dann gibt sie Madame die Lorgnette zurück und bedankt sich höflich, ohne sich auch nur im Geringsten anmerken zu lassen, dass ihr die verdorbene Überraschung etwas ausmacht.
Ihr dritter Hochzeitstag entpuppt sich als äußerst ruhige Angelegenheit. Sie stoßen »auf die Liebe« an und heben dabei ihre kleinen Gläser mit dem guten Wodka aus dem Ausland – Viktor hat ihn auf einer Reise gekauft; er stammt zwar aus Russland, wird aber nur für den Export produziert und ist besser als alles, was man hierzulande bekommen kann. Viktor leert sein Glas in einem Zug und verkündet: »Die Liebe ist alles, was uns bleibt. Das habe ich jetzt verstanden.«
Aber Ninas erster Gedanke ist, dass es für sie außerdem noch das Tanzen gibt. Tanzen und Liebe. Mehr mag ihr nicht bleiben, aber mehr braucht sie auch nicht.
Viktor schmiegt sein Gesicht an ihren Hals. »Nina, lass uns eine Familie gründen, hm? Was hältst du davon?«
Eine Familie. Kinder, ein Kind. »Ich habe es ja versucht. Aber ich habe nun mal … Probleme dabei.« Jetzt ist einfach nicht der richtige Zeitpunkt. Damit würde sie ihre Karriere beenden, die doch gerade erst ihren Höhepunkt erreicht hat.
Viktor sieht ernst aus, als er erwidert: »Das kommt bei Tänzerinnen wohl recht häufig vor. Dass sie Probleme haben.«
»Ja, aber mach dir keine Sorgen. Wir haben doch Zeit.« Sie fühlt sich überwältigt von Schuldgefühlen, weil sie gerade jetzt, da er sie so sehr braucht, nicht bereit ist, ihm die eine Sache zu geben, die er sich wünscht. Mit jedem verstreichenden Monat wird ihr deutlicher bewusst, dass bestimmte Gefühle und Handlungen zu Entscheidungen werden und dass es nicht etwa andersherum ist. Denn sie würde ja gern eine Familie gründen, wenn dieser Schritt nicht dieses andere Opfer von ihr fordern würde. Wie schön es wäre, wenn sie in einer Phantasiewelt einfach beides haben könnte.
Nun greift Viktor unter den Tisch und zieht eine kleine Pappschachtel hervor. »Dein Geschenk.«
Dabei handelt es sich nicht um die Schachtel, die Madame vor ein paar Tagen auf den Tisch gelegt hat. Diese hier ist quadratisch und viel kleiner. Nina öffnet sie und findet darin eine zweite Schatulle aus wunderschönem, leuchtend grünem Malachit.
»Viktor, das ist ja bezaubernd.«
»Mach es auf.«
Aha, es sind also gleich zwei Geschenke. Nina öffnet den Malachit-Deckel und sieht hinein. Im Inneren des Kästchens befindet sich ein Paar kleine, runde, funkelnd grüne Ohrringe.
Sie muss ihre Überraschung nicht spielen.
»Als ich sie sah, habe ich deine Augen gesehen.«
Smaragde. »Sie sind hinreißend.« Sie kann sich vorstellen, was sie gekostet haben müssen. Sie ist zutiefst berührt von Viktors Aufmerksamkeit und der strahlenden Schönheit dieser schillernd grünen Edelsteine.
Dennoch muss sie an das Bernsteinset denken und
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