Die Tänzerin im Schnee - Roman
zeigen, dass sie geliebt wird, auch wenn Gersch nicht mehr da ist.
»Ich habe den Zopf vorm Schlafengehen nicht gelöst, und als ich aufwachte, sah es so aus«, erzählt Vera weiter. Wellen wie in den Roggenfeldern vom vorigen Tag.
Nina räumt die Gläser und den leeren Punschkrug vom Tisch, und um Serge aus dem Weg zu gehen, verschwindet sie dabei so oft in die Küche, wie sie es rechtfertigen kann. Schließlich hört sie Viktors und Polinas Stimmen den Hügel heraufkommen; Polina plappert gerade unaufhörlich über all die Spezialangebote für Gäste in dem Kurort, in dem sie und Serge gewesen sind. Serge packt Vera schnell am Arm und erklärt ihr, dass Polina zwar nach Moskau zurückmüsse, er aber wiederkommen und sie noch einmal besuchen könne. Er lässt ihren Arm los, bevor sie etwas erwidern kann, und springt auf, um Polina zu begrüßen. »Zeit für uns aufzubrechen.« Erst als sie in Serges sandfarbenem Auto davonfahren, seufzt Nina vor Erleichterung auf.
In dieser Nacht kehrt die Nachtigall recht spät zurück.
Ta-ta-ta-ta-ta-ta-ta-ta-tirili …
Klar und gleichmäßig, wie Schläge auf Klaviertasten. So bedrückt sie auch klingt, ist Nina doch dankbar für ihr Lied, für die Beharrlichkeit und Ausdauer, mit der sie die ganze Nacht hindurch singt.
Am nächsten Tag sitzen Nina und Vera zusammen in der
Banja
. Es ist eine kleine Holzhütte direkt hinter der Datscha, nicht weit vom Fluss entfernt, so dass sie mühelos hin und zurück laufen können. Sie hat dunkle Wände, und in einer Ecke steht ein großer Ofen, um dessen Rohr herum Steine aus dem Fluss aufgehäuft sind. Dampfwolken steigen auf, wenn Nina Wasser auf die heißen Steine gießt. Sie legt sich auf die hölzerne Stufe und spürt, wie sie von der heißen Luft umhüllt wird, dieser extremen, fast schon schmerzhaften Hitze, die vom Duft der verbrannten Birkenblätter erfüllt ist. Auf der ihr gegenüberliegendenStufe hat sich Vera rücklings ausgestreckt und hält sich mit den Ellbogen halb aufrecht.
»Warum lässt du dir das alles von ihm gefallen?« Nina spürt beim Sprechen die Hitze in ihrem Mund.
»Wen meinst du?«
»Serge. Er sieht dich immer so gierig an.«
Vera schweigt kurz. »Vielleicht kann er uns helfen. Ich rede von Gersch. Serge kennt Leute. Womöglich kann er seine Beziehungen spielen lassen.«
Nina denkt darüber nach. »Aber warum sollte er irgendetwas tun, um
Gersch
zu helfen?«
»Weil ich ihn darum bitte. Er mag mich.«
Seine schlüpfrigen Bemerkungen, seine anzüglichen Blicke …
»Es könnte sogar möglich sein, die Anklage zu tilgen.« Dann klingt Veras Stimme nahezu weinerlich: »Ich mache mir die ganze Zeit Sorgen um Gersch. Was denkst du, was sie da drin mit ihm anstellen?«
Wahrscheinlich bringen sie ihn um den Verstand – aber Nina beißt sich auf die Zunge. »Veroschka, er ist stark.«
Vera gibt ein merkwürdiges Lachen von sich, das einem Schmerzenslaut ähnelt: »So viele Männer haben sich mir angeboten. Haben wegen mir geweint. Haben mir alles Mögliche versprochen. Aber ich muss diesen komischen Kerl mit dem sonderbaren Namen lieben, der noch dazu schielt und mich nicht heiraten wollte.«
Nina versucht, einen Scherz zu machen: »Sieh es doch so, dir blieb eine Schwiegermutter erspart.«
Ein langer, trauriger Seufzer von Vera. »Ich weiß, dass du dich mit deiner nicht verstehst. Aber zu mir ist sie immer nett gewesen.«
»Aber du hast gesehen, wie sie Viktor manipuliert«, gibt Nina zurück. »Und wie sie mit mir redet. Ich bin nämlich déclassé. Sie muss mich immer wieder daran erinnern, dass ich in einen ›guten Stammbaum‹ hineingeheiratet habe. Nur so kann sie sich selbst davon überzeugen, dass ihre Enkelkinder nicht erblich belastet sein werden.«
Vera scheint darüber nachzudenken. »Wirst du ihr denn welche schenken?«
»Enkelkinder?« Nina seufzt laut. »Ach, Vera. Ich bin schon wieder schwanger.«
Vera schweigt.
»Ich glaube, heute ist der erste Tag, an dem ich es mir selbst eingestehe.«
»Schon wieder«, sagt Vera langsam und dann: »Machst du denn keine Spülungen?«
»Jedes Mal, mit Essig, aber es hilft einfach nicht! Und dieses Schwammding aus Budapest ist völlig nutzlos.« Erhitzt durch ihren Gefühlsausbruch bleibt Nina eine Minute lang schweigend liegen. Wahrscheinlich ist das der Preis, den sie für diese gewaltige, geradezu tyrannische Anziehungskraft zahlen muss, die Viktor immer noch auf sie ausübt – diese elektrische Spannung, die zwischen ihnen herrscht. »Nicht
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