Die Tänzerin im Schnee - Roman
verjagen könnte – würde das, könnte das auch die Schmerzen vertreiben? Ihr tiefes Seufzen löste prompt einen brennenden Schmerz in den Schultern aus. »Ich konnte es nicht verstehen. Ich wusste, dass es antijüdische Propaganda gab, aber zuerst dachte ich, dass Gersch – dieser Mann hier – irgendetwas getan haben musste. Sehen Sie, ich wusste nichts, ich war doch Tänzerin, um andere Dinge habe ich mich nicht gekümmert. Ich habe meine Augen davor verschlossen. Ich wollte mich nicht fragen, weshalb Menschen durch eine Tür verschwinden und dann nie wieder zurückkommen.« Es fühlte sich gut an, all das einmal auszusprechen, selbst wenn es nur vor einer jungen Frau wie dieser war, die sicher nichts davon begriff.
Veras Blick auf dem Foto war düster und gehetzt. »Dieses Mädchen hier hatte auch ein hartes Schicksal. Sie ist nach Leningrad gezogen, nachdem ihre Eltern verhaftet wurden. Im Großen Vaterländischen Krieg ist dann ihre Stadt zerstört worden, und viele Leute, die sie kannte, sind gestorben. Und später wurde der Mann eingesperrt, den sie mehr als alles andere auf der Welt liebte, das war nämlich dieser hier.«
Nina schloss kurz die Augen. »Sie war meine beste Freundin.« Sie tanzen über den staubigen Hof, steigen auf die Zehenspitzen … »Aber wir haben einander sehr weh getan.«
Nina überkam die absurde Hoffnung, dass Drew sie fragen würde: »Wie? Was haben Sie gemacht?«, und dass sie daraufhin ihr Gewissen erleichtern könnte. Vielleicht würde das den Erinnerungen Einhalt gebieten, die Tag für Tag weiter vordrangen. Doch das Einzige, was Drew hervorbrachte, war: »Sie ist so wunderschön.«
Natürlich. Typisch. Nina überdeckte das Bild schnell mit dem anderen Foto. Mit zusammengekniffenen Augen nahm sie diese zweite Umgebung in sich auf, die sich ihr sogleich offenbarte: »Das hier: Das ist im August 1951. Ich erinnere mich daran, wie es entstanden ist. Vor der Datscha. Meine Freundin hat es gemacht. Es war aber nicht ihre Kamera. Sie gehörte … ihm.« Sie zeigte direkt neben das Foto, auf die Stelle auf dem Couchtisch, wo sich der Rest des Bildes befunden hätte. Aber wer hatte ihn abgeschnitten? Wem hatte dieses Foto gehört?
»Wer ist das?«, fragte Drew zögernd und wies auf Polina.
»Sie war wohl auch eine Freundin von mir.« Nina spürte, wie ihr Tränen in die Augen traten, obwohl sie und Polina sich nie sehr nahegestanden hatten. Sie drehte den Kopf so weit zur Seite, wie es ihr möglich war.
»Dann habe ich da auch noch diese Briefe«, fuhr Drew nervös fort. »Vielleicht … können Sie sich ja auch an sie erinnern.«
Durch die Tränen hindurch konnte Nina kaum noch etwas erkennen, als Drew die Blätter auseinanderfaltete und vor sie auf den Tisch legte. Und auch wenn die Schrift ihr womöglich vage vertraut vorkam, erkannte Nina diese Briefe nicht wieder. Entsetzt fühlte sie, wie ihr eine Träne die Wange hinunterlief. Steif hob sie eine Hand, um sie fortzuwischen.
»Diese Briefe kenne ich nicht. Bitte nehmen Sie sie weg. Die Fotos dürfen Sie verwenden. Ich gestatte es Ihnen.« Aber der Schmerz war überwältigend. Sie konnte einfach nicht länger hinsehen.
In diesem Jahr sitzen sie nur zu dritt im Pobeda. Seit Tagen hat es geregnet, so dass die nasse Straße aus Lehm rutschig ist und die wogenden Roggenfelder glänzen. Die Fichten wirken größer, breiter und grüner. Die Datscha sieht allerdings genauso aus wie immer, mit der von weißen Lilien umwachsenen Steinterrasse und den Elstern mit den langen, auffälligen Schwanzfedern, die davor auf den Boden einhacken. Irgendetwas muss Samen gebildet haben.
Mittlerweile regnet es erneut. Vera kocht Graupensuppe, während Viktor draußen einen Eimer mit nassen Himbeeren füllt, die sie essen müssen, bevor sie verschimmeln. Nina verbrennt Holz im Ofen und füttert den Samowar mit knisternden Kiefernzapfen, so dass sich die Luft mit wohlduftendem Rauch füllt.
In der Nacht liegt sie wach im Bett, während fahles Licht zwischen den Lamellen der Jalousien ins Zimmer dringt. Dieser Sommer ist fürchterlich. Gersch ist weg, Viktor ist niedergeschlagen und trinkt zu viel, und Vera ist trauriger und abgemagerter als je zuvor. Und dann ist da noch Ninas schlechtes Gewissen, weil sie Viktor ein Versprechen gegeben hat, das sie gar nicht halten will. Alles falsch, alles verdorben. Schließlich sinkt sie dann doch gerade langsam in den Schlaf, als eine Nachtigall in der Nähe des Fensters zu singen
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