Die Tänzerin im Schnee - Roman
erwähnen, einfach nur ihren Namen auszusprechen. Aber natürlich hielt er sich davon ab; sobald es aus seinem Mund war, könnte sich womöglich alles in Luft auflösen. Außerdem sprach er ohnehin nie mit Zoltan über solche Dinge.
»Heute ist mir etwas bewusst geworden«, erklärte Zoltan kauend. »Es ist schon verrückt, wie die Arbeit an meinen Memoiren und das Lesen meiner alten Tagebücher einigen der Ideen, die ich seit Jahren mit mir herumtrage, eine feste Form gegeben haben. Oder vielleicht ist das so nicht ganz richtig. Vielleicht sollte ich lieber sagen, dass ich meine eigenen Gedanken nun aus der Distanz sehe, mit der Zeit als Brücke dazwischen. Ich sehe all die Wiederholungen und Refrains. Seite für Seite die Gedanken dieses komischen jungen Kerls. Und dieser komische junge Kerl war
ich
. Ich lese dort, was ich damals geschrieben habe und über wen ich geschrieben habe, und weißt du, was ich dabei ganz deutlich erkannte, Grigori? Ich gehe natürlich davon aus, dass ich es tief in mir schon die ganze Zeit über gedacht oder gewussthabe. Dass es nämlich nur zwei Dinge im Leben gibt, die wirklich von Bedeutung sind. Die Literatur und die Liebe.«
Grigori musste lächeln. »Da muss ich dir wohl zustimmen.« Er fühlte sich ja schließlich selbst wie neugeboren, seit Drew diesen Schritt auf ihn zu getan hatte. Und Freundschaften wie diese mit Zoltan schienen eine Zeitlang alles zu sein, worauf er zählen konnte. So wie er auch immer auf Tschechow, Eliot oder Musil zählen konnte. An einem besonders schrecklichen Tag kurz vor Christines Tod, als ihm plötzlich und mit größter Wucht bewusst wurde, dass sie sich gerade auf einer furchtbaren, einsamen Reise befand und für ihn schon nicht mehr zu erreichen war, hatte Grigori sich hingesetzt und noch einmal
Der Tod des Iwan Iljitsch
gelesen. Danach überkam ihn ein Gefühl – gar nicht einmal des Trostes, denn es war eine sehr traurige Geschichte, aber des Verstehens; er verstand auf einmal mehr von dem, was Christine durchmachte. Also kam er sich nicht mehr ganz so einsam vor.
Zoltan fuhr fort: »Ich erinnere mich noch daran, dass ich vor meiner Ausreise aus Ungarn ganz und gar verinnerlicht hatte, dass die Literatur mich sowohl retten als auch umbringen könnte. Selbstverständlich ist es hier nicht dasselbe. Aber ist es nicht eigenartig, dass der Preis, den man mehr oder weniger für die Redefreiheit zahlen muss, eine Art … Belanglosigkeit ist?«
Grigori konnte sich kaum verkneifen, ihm die letzten Neuigkeiten zu erzählen: es sah nämlich so aus, als hätte er bereits die perfekte Übersetzerin für Zoltans Gedichte gefunden, eine Amerikanerin ungarischer Herkunft, die Grigori gegenüber schon vor Jahren auf einer Konferenz ihr Interesse an Zoltans Arbeit bekundet hatte. Sie war Professorin in Syracuse, und Grigori war stolz darauf, dass er sich an sie erinnerte. Doch er behielt es noch für sich, da er erst eine sichere Zusage von einem Verlag haben wollte, was eine Weile in Anspruch nehmen konnte.
»Natürlich kann man als Lyriker nicht vorsichtig sein«, erklärte Zoltan gerade. »Das gilt für alle Künste. Und so ist es auch mit der Liebe. Alles oder nichts.« Er nahm sich einen Moment, um den Brokkoli zu kauen. »Deshalb ist die Liebe ebenfalls so gefährlich. Für die Liebe treten wir ein. Wir nehmen Gefahren auf uns. Aber du weißtdas ja besser als jeder andere – dein eigenes sowjetisches Russland wurde doch in eine ganze Nation umgewandelt, die jede Liebe außer die zum Vaterland unterbinden wollte.«
Weil die Liebe Menschen dazu brachte, für sich selbst zu denken und auf sich und ihre Liebsten aufzupassen. Grigori stimmte zu: »Die Liebe macht einen stark, und wir tun die verrücktesten Dinge für die Liebe.« Vor seinem geistigen Auge sah er Drew, die in seinem Büro auf ihn zu trat und die Arme um seinen Hals legte, während er sie an seine Brust zog … und das Institut für Fremdsprachen sich direkt auf der anderen Seite der Tür befand.
»Haargenau«, rief Zoltan triumphierend. »Deswegen ist sie auch wichtiger als alles andere.« Er kaute eine Weile und fügte dann hinzu: »Abgesehen von der Literatur natürlich.«
Grigori dachte laut nach: »Manchmal glaube ich, dass ich deshalb an der Universität geblieben bin. Sie ist schließlich einer der wenigen Orte in diesem Land, an denen du nicht darum kämpfen musst, andere Leute davon zu überzeugen, dass Literatur und Kunst von Bedeutung sind.« Mit einem Seufzen ergänzte er:
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