Die Tänzerin im Schnee - Roman
hat.
»Wo willst du hin?«
»Zur Arbeit.«
»Du bist doch gerade erst nach Hause gekommen. Heute hast du doch nicht einmal einen Auftritt.«
»Ich muss üben.« In Wirklichkeit will sie einfach nur aus der Wohnung hinauskommen, fort von Viktor und fort von Madame. Viktor unternimmt keinerlei Anstrengungen, um sie aufzuhalten. Als sie die Wohnung verlässt, sitzt er immer noch vorgebeugt, das Gesicht in den Händen vergraben, auf dem Bett.
Sie beschließt zu üben. Sie will diese Welle von Wut und Adrenalin, die sie durchströmt, auf die einzige gute Weise nutzen, die sie kennt – sie in Drehungen und Sprünge und schnelle, kraftvolle Sätze verwandeln. Das ist alles, was sie kann, und alles, was sie weiß. Als sie das Bolschoi-Theater betritt, haben ihre Hände immer noch nicht aufgehört zu zittern.
Obwohl die Vorstellung erst in zwei Stunden beginnt, herrscht auf den Fluren geschäftiges Treiben, Kostüme werden gebracht, und Tänzerhasten aufwärts und abwärts durchs Treppenhaus. Nina hat vor, direkt in ihre Garderobe zu gehen, um ihre Übungskleidung zu holen, und sich dann einen leeren Proberaum zu suchen. Aber sie läuft geradewegs an ihrer Tür vorbei, die Treppen hinauf, den nächsten Flur entlang und auf ihre alte Garderobe zu.
Vera muss Madame besucht haben, während ich nicht da war. Sie muss es ihr erzählt haben, mit der Absicht, sie gegen mich aufzuhetzen.
Nina klopft laut an die Tür der Garderobe.
Keine Antwort. Vielleicht tanzt Vera heute nicht einmal. Nina will sie anschreien, ihr eine wütende Nachricht hinterlassen, irgendetwas auf dem Boden zerschmettern … Egal was, solange sie damit dieses fürchterliche Gefühl loswird. Sie reißt die Tür mit solcher Wucht auf, dass sie gegen die Wand schmettert.
Direkt vor ihr, auf Augenhöhe, befinden sich zwei reglose, schlaff herunterhängende Beine in Seidenstrumpfhosen.
Nina sieht nach oben und erkennt eine lange, dünne Gestalt, die wie eine dressierte Gans an einem Küchenhaken aussieht. Polina, die ihr Trikot trägt und deren Kopf eine unnatürliche Position einnimmt.
Erst als sie ihre Stimme wiedergefunden und sich daran erinnert hat, wie ihre Beine zu gebrauchen sind, beginnt Nina zu schreien. Sie rennt in den Flur hinaus, auf der Suche nach irgendjemandem, egal wem. Und sie braucht dennoch eine ganze Stunde, um wirklich zu verstehen – es als Realität zu begreifen –, dass Polina tot ist, es selbst getan hat, mit Hilfe von dicken Wollstrumpfhosen, die sie zusammengebunden und sich um den Hals gelegt hat.
Die ganze Woche über geht ein einziges Flüstern durch die Korridore des Bolschoi-Theaters.
Von ihrem Freund sitzengelassen, hast du das nicht gehört, hat sie fallenlassen wie eine heiße Kartoffel …
Aber wie konnte sie, ausgerechnet Polina, nur diesen unpatriotischen, unsowjetischen Akt des Selbstmords begehen?
Du kennst Polina ja, sie hat nichts mehr erwartet, hatte keinen Lebenswillen mehr …
Aber warum gerade hier, im Bolschoi-Theater?
Sie dachte, es sei wegen Vera, weißt du nicht, dachte, Vera sei der Grund …
Vera selbst war in der Zwischenzeit nicht ein einziges Mal erschienen.
Hat ihn kaum eines Blickes gewürdigt, aber du weißt ja, wie Männer sind, sie lieben die Jagd, und am Ende zahlt sich Beharrlichkeit
schließlich doch aus …
Auch in der Woche danach bleibt sie dem Ballett fern.
Ihre Achillessehne, nicht wahr, aber manche denken ja, dass sie eigentlich, ach, aber ich sage besser nichts, so setzt man doch nur Gerüchte in die Welt.
Und natürlich scheint es ganz offensichtlich: nicht Nina, sondern Vera war diejenige, die Polina finden sollte.
Am Esszimmertisch, der mit den gewebten Platzdeckchen, den Leinenservietten und dem guten, schweren Geschirr gedeckt war, das er nur selten für sich allein benutzte, lächelte Grigori zufrieden, als Zoltan seine Kochkünste lobte. »Grigori, du hast nie erwähnt, dass du so gut kochen kannst. Ich muss zugeben, dass ich das kaum für möglich hielt.«
»Christine hat mir ein paar Sachen beigebracht.« Grigori hatte zwei große Lachsfilets angebraten, mit Dill bestreut und mit einer Zitronenscheibe garniert. Dazu servierte er gedämpften Reis und Brokkoli aus der Pfanne. »Aber ich koche selten nur für mich.« Seinen nächsten Gedanken behielt er für sich, dass er nämlich erst seit ein paar Tagen plötzlich großen Appetit bekommen hatte.
Mit einem weiteren Bissen Lachs auf der Gabel kämpfte er gegen diesen ihm bislang unbekannten Drang an, Drew zu
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