Die Tänzerin im Schnee - Roman
Zenia seit neuestem Witwe ist.«
Gersch, der gerade die Flasche aufschrauben wollte, hält inne. »Das habe ich auch gehört«, murmelt Viktor in seinen Tee. Nina überlegtfieberhaft, wer diese Zenia sein könnte, ob sie sie kennt. Aber natürlich geht es Zoja nicht um Zenia selbst, sondern um ihren Ehemann, darum, dass er unter fragwürdigen Umständen ums Leben gekommen ist. Das ist die eigentliche Bedeutung ihrer Worte.
»Ich wusste nichts davon«, sagt Gersch leise und macht sich wieder an der Flasche zu schaffen. Nina läuft es kalt den Rücken herunter, obwohl sie diese leisen verschlüsselten Botschaften auch vom Ballett her kennt.
»Na ja, ich weiß es auch erst seit heute«, sagt Zoja.
Gersch schenkt Schnaps in die Teetassen, immer noch, ohne aufzublicken. »Er wurde nicht zufällig von einem Laster überfahren?«
Das versteht Nina, davon hat sie gehört. Einen Monat zuvor ist ein großer Schauspieler, der Leiter des Jüdischen Theaters, bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen. So stand es jedenfalls in den Zeitungen. Aber man erzählt sich, bei dem Lastwagen, der ihn rammte, hätte das MWD seine Hand im Spiel gehabt. Nina weiß immer noch nicht, was sie von der Geschichte halten soll. Warum sollten sie – und wie könnten sie – einfach jemanden umbringen, einen Unschuldigen? Beim Gedanken daran wird ihr wieder ganz flau. Das Jüdische Theater ist inzwischen geschlossen worden.
»Nicht, dass ich seine Gedichte gekannt hätte.« Zoja ignoriert Gerschs Frage, und Nina weicht seinen Blicken aus. Mit dem schielenden Auge, hat sie beschlossen, wirkt er vor allem etwas aus dem Gleichgewicht.
»Seine Gedichte waren herzzerreißend«, sagt Viktor sehr leise.
Gersch setzt sich wieder auf den Diwan und sagt wie zum Abschluss: »Genau.
Das
meine ich, wenn ich von wahrer Kunst rede.«
»Sie dient den Massen«, doziert Viktor, ohne jemanden Bestimmtes anzusprechen, und Nina hört ihm an, dass er das Thema wechseln möchte. »Dichtung, Jonglage und Bühnenmagie dienen alle demselben Ziel. Es geht nicht um die Künstler oder ihre Werke, sondern um das Volk. Egal in welchem Bereich der Kunst.« Er nippt zögerlich an seinem Tee. »Ah, jetzt kriege ich ihn runter. Vielen Dank.«
»Die Massen, natürlich«, sagt Gersch. »Aber du weißt doch, worauf das hinausläuft.« Er rutscht auf dem Diwan ein Stück nach hinten und scheint sich von dem Schrecken, der Wut oder der Angst schonwieder erholt zu haben. Dann streckt er ganz nebenbei die Hand nach einem Sofakissen aus und presst es auf das Telefon. »Letzten Monat haben meine Kollegen und ich uns drei volle Tage lang Vorträge des Zentralkomitees über die neuen Richtlinien für sowjetische Musik angehört. Drei Tage nur Vorwürfe für alles, was wir falsch machen. ›Volksfeindlich‹ hier, ›formalistisch‹ da, ›unmelodisches Durcheinander‹ und so weiter und so fort. Genau wie 1936. Und wir mussten zu allem nicken, während Schdanow die Liste der Beschuldigten vorlas, die alle mit im Saal saßen: Schostakowitsch, Prokofjew, Chatschaturjan. Keine Ahnung, warum mein Name nicht auf der Liste stand.«
Nina hat von der Konferenz gehört; es gab leise Unmutsäußerungen der Pianisten und Dirigenten im Bolschoi, Geflüster, wütend dreinblickende Musiker. Sie fragt sich, ob Gersch gut daran tut, sich jemandem wie Zoja gegenüber zu beschweren, geht dann aber davon aus, dass er sie gut genug kennt und selbst weiß, was er macht.
»Die mittelmäßigen, zweitklassigen Komponisten waren natürlich entzückt«, fährt Gersch fort. »Mittelmäßigkeit ist jetzt sehr gefragt, wisst ihr. Die Redner betonten immer wieder, das Zentralkomitee wolle ›schöne, elegante Musik‹. So haben sie es ausgedrückt, ›schön und elegant‹.« Er hebt die Augenbrauen. »Was soll man dagegen schon sagen?« Ein winziges Lächeln huscht über sein Gesicht. »Ich habe mich danach mit dem armen Schostakowitsch unterhalten. Er hat mir erzählt, wie Prokofjew und er zum Gespräch mit Schdanow persönlich geladen wurden. Und wie Schdanow sagte, das wichtigste Kriterium für Musik …« Gersch klingt verächtlich, aber mit den Augen lacht er. Er unterbricht sich, steckt sich noch eine Zigarette an und atmet den Rauch aus. Dann setzt er ein todernstes Gesicht auf. »Es geht hier um Verbesserungsvorschläge für unsere zwei größten lebenden Komponisten, wohlgemerkt. Schdanow hat ihnen erklärt, das wichtigste Kriterium für ein gelungenes musikalisches Werk sei, dass es eine Melodie
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