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Die Tänzerin im Schnee - Roman

Die Tänzerin im Schnee - Roman

Titel: Die Tänzerin im Schnee - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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schwarzen Vogel zeigte. Er flog nicht, sondern stand, aber auf dem Bild war kein Boden zu sehen, nur ein leerer Hintergrund, vor dem sich der Vogel um so prägnanter hervorhob. Aus unerfindlichen Gründen hatte niemand darauf geboten, und Drew hatte es nach der Auktion für weniger als zweihundert Dollar erstanden. Oft ertappte sie sich dabei, das Bild so anzusehen, als sei der Vogel echt und könnte ihren Blick erwidern. Es war ein unscheinbares Tier, aber zugleich wunderschön in seiner Schlichtheit, seiner Einsamkeit, seiner Direktheit und unnachgiebigen Präsenz – wie es sich stolz und doch bescheiden vor der weißen Leere behauptete. Aber das alles hätte Drew Grigori Solodin nie erklären können. »Sie können natürlich auch gern bei der Auktion dabei sein«, sagte sie. »Von Ihrem persönlichen Bezug dazu muss ja niemand erfahren.«
    »Danke sehr.« Plötzlich wirkte er unruhig. Er griff nach Hut und Handschuhen und sagte: »Und sagen Sie mir bitte Bescheid, wie gesagt, wenn das Labor sich gemeldet hat.«
    Er setzte bereits an zu gehen, und Drew fühlte sich gedrängt, noch rasch etwas zu sagen. »Wenn Ihnen etwas einfällt, das wir für die Beilage benutzen könnten, rufen Sie mich unbedingt an.«
    »Tut mir leid«, sagte, er, »ich fürchte, ich besitze keinerlei ergänzende Materialien.«
    »Gut, ich wollte nur sichergehen.« Drew war merkwürdig enttäuscht, obwohl sie eigentlich ohnehin nicht viel erwartet hatte. Aber selbst nachdem er ihr einen guten Tag gewünscht und sich unter der Tür hindurchgeduckt hatte – als sei er zu groß und zu breitschultrig dafür –, konnte Drew nicht umhin, sich ein wenig verletzt zu fühlen, weil er nicht versucht hatte, ihr zu helfen.
     
    Einen Monat darauf ist Nina offiziell in die Gemeinschaftswohnung aufgenommen, die sie und Viktor mit dreiunddreißig anderen teilen. Eine große Küche mit drei Öfen, sechs Tischen und sehr viel zum Trocknen aufgehängter Wäsche gehört dazu, das klobige schwarze Telefon, das immerzu klingelt, wenn es nicht schon in Gebrauch ist, direkt gegenüber ihrer Zimmertür, sowie ein immer belegter Waschraum mit Toilette. Nina läuft jedoch, seit sie so dicht am Theaterplatz wohnt, einfach ins Bolschoi hinüber, wenn sie ein Badezimmer braucht. Das ist eines der Privilegien, für die sie jeden Tag aufs neue dankbar ist, genauso wie für den tragbaren Ofen, mit dem Viktor und sie ihr Zimmer heizen können, sein Stipendium vom Moskauer Literaturfonds, das Brot, das sie vom Schriftstellerverband bekommen, und Darja, die Rentnerin, die täglich für sie putzt und kocht.
    Auf ihrem Stockwerk wohnen noch zwei weitere Tänzerinnen, vier Opernsolisten, ein Dramatiker, ein Maler, eine Cellistin und drei Schauspieler, alle mit Familie. Eine der Ballerinas läuft vorzugsweise in einem zu locker gegürteten seidenen Hausmantel durch den Flur, und der Ehemann der Cellistin verbringt halbe Tage in der Badewanne. Der Dramatiker schreit immer seine Frau an. Zwei der Opernsänger, beides Tenöre, die an entgegengesetzten Enden des Flurs wohnen, üben gern gleichzeitig und geben sich dabei alle Mühe, einander zu übertönen. Die Kinder der Familie direkt gegenüber haben eine verängstigte kleine Katze, die immer jaulend und miauend durch die Flure streift.
    »Die Armenier« wohnen, wie Nina inzwischen weiß, rechts von ihnen und haben drei Kinder. Der Vater ist Maler und für seine Stalinporträts bekannt.
    Was Viktors Mutter angeht, so verbringt sie die meiste Zeit in ihrem Zimmer und trinkt Tee aus einem uralten, mit Kohlen beheiztenSamowar. (Nina und Viktor haben ihren eigenen, einen guten, neuen Messing-Samowar aus Tula.) Wenn sie doch einmal hinter der Sperrholztür hervorkommt, dann meist nur, um die müde, schwerfällige Darja umherzuscheuchen, um sich über die knorpeligen Fleischstückchen zu beschweren, die Darja auf dem Markt ergattert hat, oder um die kärglichen Mahlzeiten, die sie ihr auftischt, unzufrieden auf dem Teller hin und her zu schieben. Darja, eine stille, genügsame, ständig erschöpft wirkende Person, scheint der Meinung zu sein, dass sie es nicht anders verdient. Sie kommt jeden Tag um die Mittagszeit, wenn sie den ewigen Kampf um Lebensmittel schon hinter sich hat, und wirkt immer wieder ehrlich überrascht, dass ihre Ausbeute nicht Madames Ansprüchen genügt. Wortlos leert sie Madames Nachttopf, wäscht ihre Wäsche und schleppt eimerweise Wasser herbei, weil Madame sich weigert, wie alle anderen in eine öffentliche

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