Die Tänzerin von Darkover - 9
schnappte ihn noch schnell, bevor sie in den Wald davonstürzte.
Erst in sicherer Entfernung, als sie die Kapelle schon nicht mehr sehen konnte, blieb sie nach Atem ringend stehen. Sie versuchte, ihre Gedanken zu ordnen und erkannte schon bald, wie töricht es gewesen war davonzurennen. Von einem Haufen alter Knochen droht mir keine Gefahr. Wenn man es vernünftig betrachtet … Ein schwacher Trost.
Mittlerweilen war es dunkel geworden, und die Geräusche der Nacht raunten und zirpten ihr zu, doch wieder Zuflucht in der steinernen Kapelle zu suchen. Also kehrte sie langsam um und lief beklommen zur Kapelle zurück. Den Haufen Knochen umging sie so weit wie möglich. Die Holztür quietschte erbärmlich, als Amilha sie schließlich hinter sich zuzog.
»Was mache ich hier? Wo kann ich hin?« Es war niemand da, der ihr hätte antworten können. Verzweifelt glitt sie an der Wand, an der sie nach Halt suchend lehnte, hinab und begann zu weinen.
»Meine Eltern werden mich nicht wieder aufnehmen, denn für eine Heirat zu ihrem Vorteil komme ich nicht mehr in Frage. Der Turm ist mir verwehrt, denn ich bin keine Jungfrau mehr. Die Schwesternschaft wird mich für zu schwach halten. Und wie soll ich ohne Arbeit in den Städten überleben? Ich kenne kein Gewerbe …
und das eine Gewerbe … nein, niemals! Oh, Avarra, hilf mir! Was kann ich tun?«
Amilha hatte ganz vergessen, daß sie immer noch den Stein in Händen hielt. Als sie sich nun Rotz und Wasser aus dem Gesicht wischte, schürfte sie sich damit die Wange auf. »Autsch!« Da sie im Dunkel aber weder die Wunde, noch den Stein untersuchen konnte, steckte sie ihn vorsichtig in ihren Beutel. Dann verkroch sie sich in die vom Eingang am weitesten entfernte Ecke, wo sie auf den Anbruch der Dämmerung warten wollte. In ihrer Erschöpfung überkam sie bald ein tiefer, traumloser Schlaf.
Es war noch immer dunkel, als eine Stimme sie weckte. Nur Idriel sandte ihre Mondstrahlen in das Zimmer, in dem sie lag. »Wer ist da?« flüsterte sie.
Niemand antwortete.
Sie wartete noch eine Weile, aber nichts passierte. Ihr schwaches Laran, so glaubte Amilha, hatte sie wieder einmal zum Narren gehalten. Sie wollte sich keine falschen Hoffnungen machen, aber sie mußte immer wieder an den grünen Stein in ihrem Beutel denken.
Sie konnte ihn förmlich durch den Stoff pulsieren spüren. Vorsichtig öffnete sie den Beutel und nahm den Stein heraus. Er fühlte sich weder heiß noch kalt an, aber im Mondlicht erstrahlte er in einem Grün, das sie nie zuvor gesehen hatte. »Wie wunderschön er ist!«
Amilha drehte den Stein hin und her und versuchte ihn so zu halten, daß sich das Mondlicht an seinen Kanten brach und funkelte, aber es gelang ihr nicht. Der Stein schien die Mondstrahlen in sich aufzunehmen und nicht wieder freizugeben. Da wußte sie, was sie in den Händen hielt. Einen Sternenstein!
Aber ein grüner Sternenstein? Bislang hatte sie nur blaue gesehen, aber das war auch egal; Sternensteine waren jedenfalls kein Spielzeug, und eigentlich sollte sie ihn sofort wieder sicher verwahren. Das wollte sie auch tun, aber irgend etwas hielt sie davon ab. Seine Schönheit zog sie magisch an. Und jemand schien sie darum zu bitten, tiefer in die Matrix zu blicken. »Nein! Das werde ich nicht tun! Du kannst mich nicht dazu zwingen! Eher werde ich dich zertrümmern!« Tastend suchte sich nach ihrem Dolch, aber sobald sie ihn berührte, schreckte ihre Hand davor zurück. Stattdessen umschloß sie den Stein mit beiden Händen. »Du kannst mich nicht dazu zwingen, in dich hineinzuschauen!« schrie sie.Doch dann tat sie genau das.
Amilha spürte, wie sie immer weiter in die smaragdgrüne Tiefe des Steins hinabgezogen wurde. Ein grüner Sternenregen blendete sie und betäubte ihre Sinne. Tiefer und tiefer versank sie in dem allumfangenden Grün – das Grün des Lebens im Wald, in den Blättern an den Bäumen und dem Gras auf den Wiesen. Es war das Grün der Natur selbst.
Hallo, Amilha, sprach eine sanfte Stimme.
Sie war noch immer ganz vom Grün verschlungen, aber die Angst war von ihr gewichen. »Hallo?« erwiderte sie.
Kannst du mich jetzt sehen? fragte die Stimme.
Es war hellichter Tag!
»Nein. Wer bist du? Bist du der Geist jener Knochen, den ich gestört habe?«
Sie vernahm ein warmes Lachen wie das muntere Plätschern von Regentropfen im Sommer. Nein, das bin ich nicht, aber ich kannte sie, als sie noch lebte. Sie war einst ein junges Mädchen wie du.
»Aber wer bist du dann?
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