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Die Taeuschung

Die Taeuschung

Titel: Die Taeuschung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Link
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Christopher machte keine Anstalten, sich ebenfalls zu erheben,
um ihr einen Abschiedskuß zu geben, und zum ersten Mal
heute war sie ihm dankbar.
»Also, ich gehe dann. Leb wohl, Christopher. Ich wünsche
dir alles Gute!«
Sein Blick veränderte sich nicht. Etwas darin verursachte ihr
Gänsehaut. »Alles Gute, Laura«, sagte er.
Sie verließ das Restaurant mit schnellen Schritten, und erst
draußen, als sie tief Luft holte, merkte sie, daß sie in den
letzten Minuten nicht mehr richtig hatte atmen können. Daß sie
es in Christophers Gegenwart nie gekonnt hatte.
Vorbei und vergessen, sagte sie sich.
Doch das Gefühl der Beklemmung wollte sich noch nicht
verabschieden.
5
    Cathérine legte den Brief zur Seite, den sie gerade zum zehnten
Mal an diesem Tag gelesen hatte. Er tat ihr gut, und
wahrscheinlich griff sie deshalb immer wieder danach. Der
Pfarrer des kleinen Dorfes, in das sie ziehen wollte, hatte ihr
geantwortet. Sie hatte ihn früher oft bei ihrer Tante
angetroffen, hatte mit ihm geredet und manchmal sogar
Spaziergänge unternommen. Der einzige Mensch, vor dem sie
sich nicht ihrer schlechten Haut und ihrer unförmigen Figur
wegen schämte. Er war damals ein Mann in den mittleren
Jahren gewesen, inzwischen mußte er ein älterer Herr sein.
Zum Glück war er noch immer der Pfarrer des Dorfes, und er
hatte sich auch sofort an sie erinnert, als er ihren Brief erhielt.
So schrieb er jedenfalls.
    Sie hatte ihn gefragt, ob er ihr helfen könne, eine Unterkunft
zu finden, hatte auch angedeutet, über ein wenig Geld aus dem
Verkauf ihrer Wohnung zu verfügen. Viel bekam sie für die
heruntergewohnte Bude natürlich nicht, aber zumindest stand
sie nicht mittellos da. Vielleicht würde sie irgendwo auch eine
Arbeit finden, denn es täte ihr auf keinen Fall gut, den ganzen
Tag nur daheim zu sitzen.
    Der Pfarrer schrieb, daß es ein leerstehendes Häuschen im
Dorf gebe, »ganz nah bei dem ehemaligen Haus Ihrer Tante«.
Die Besitzerin sei in ein Altenheim umgezogen und wolle
vermieten, und er werde gern ein gutes Wort für sie, Catherine,
einlegen. Zum Schluß fügte er noch hinzu: »Ich denke, es ist
ein guter Entschluß von Ihnen, hierherzukommen. Ich hatte
immer den Eindruck, daß Sie für unsere Gegend ein gewisses
Heimatgefühl empfinden, vielleicht mehr für die Küste, an der
Sie leben. Sicher folgen Sie einer inneren Stimme, und aus
meiner Lebenserfahrung weiß ich, daß man durchaus auf das
hören sollte, was das Herz rät. Wir freuen uns jedenfalls auf
Sie!«
    Der letzte Satz trieb ihr beinahe die Tränen in die Augen. Sie
las ihn wieder und wieder und spürte zum ersten Mal seit sehr
langer Zeit ein Stück Hoffnung darauf, daß das Leben auch für
sie noch ein kleines Maß an Glück oder wenigstens
Zufriedenheit bereithalten könnte.
    Sie hatte vorgehabt, an diesem Tag zu Hause zu bleiben, und
sie war, unterstützt durch den Brief des Pfarrers, auch
überzeugt gewesen, daß ihr das gelingen würde.
    Aber nun, da der Nachmittag anbrach – es war fast drei Uhr ,
wurde sie unruhig. Es fehlte ihr etwas – etwas, das offenbar
schon sehr viel mehr zu einem Bestandteil ihres Lebens
geworden war als sie hatte wahrhaben wollen. Es war fast wie
ein Zwang.
    Sie lief in der Wohnung hin und her, las immer wieder den
Brief des Pfarrers und versuchte, sich in ihre neue Zukunft
hineinzutragen. Es gelang ihr immer schlechter, und
irgendwann gab sie den aussichtslosen Kampf auf. Schließlich
würde sie nicht mehr lange hier sein, und in den wenigen
verbleibenden Wochen konnte sie tun und lassen, was sie
wollte. Insgesamt hatten all diese Dinge keine Auswirkung
mehr auf ihr weiteres Leben.
Sie nahm ihre Tasche und ihren Autoschlüssel und verließ
das Haus.
     
6
    Ihm war heiß, und zugleich fror er. Seine Beine fühlten sich an
wie Gummi. Sein verletzter Fuß tat weh, und sein Kopf
schmerzte, und manchmal meinte er, Stimmen zu hören. Als
stehe jemand hinter ihm und spreche ihn an, aber jedesmal,
wenn er herumfuhr, war niemand da. Irgendwann begriff er,
daß die Stimmen nur in seinem Gehirn existierten, aber es
gelang ihm nicht, zu verstehen, was sie sagten.
    Nach dem Mittagessen – nachdem sie ihn hingerichtet und
zerstückelt und mit Füßen getreten hatte, die gottverdammte
Hure – war er sehr ruhig nach Hause gefahren und hatte sich
vergewissert, daß die obere Kellertür noch immer verschlossen
war, denn da gab es ja noch die Kreatur, die sich dort unten

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