Die Taeuschung
gesehen.
Nein, ich glaube auch nicht, daß es ein Stück weiter weg steht,
ich bin heute früh die Straße entlang gefahren, da wäre es mir
aufgefallen. Warum sollte es dort auch noch stehen? Er wird
gestern abend kaum zu Fuß von hier fortgegangen sein.«
Er seufzte. »Im Moment kann ich nichts machen, Laura, tut
mir leid. Morgen vielleicht, morgen ist mein freier Tag.
Natürlich halte ich dich auf dem laufenden. Auf Wiedersehen,
Laura.« Er legte den Hörer auf, drehte sich zu Nadine um.
»Wir sollten nachsehen, ob sein Auto hier noch irgendwo steht.
Sie dreht ein bißchen durch. Aber vielleicht ist das gar kein
Wunder.«
»Wieso ist das kein Wunder?«
Er starrte sie einen Moment lang an. »Ach, egal«, meinte er
dann, »das alles ist ja im Grunde nicht unsere Sache.«
Sie hatte sich umgezogen, die Hände gewaschen, und dann
waren schon die ersten Gäste hereingeströmt, und sie hatte
keine Ruhe mehr gehabt. In ihrem Kopf hatten sich die
Gedanken überschlagen, und noch nie vorher hatte sie sich so
heftig danach gesehnt, allein zu sein, Ordnung in den Wirbel
hinter ihrer Stirn zu bringen.
Und nun stand sie vor Peter Simons Auto und vermochte
nicht zu begreifen, was geschehen war.
Sie spähte in das Wageninnere. Auf dem Rücksitz lagen
Gepäckstücke und eine Regenjacke, auf dem Beifahrersitz ein
Aktenordner. Das Auto vermittelte den Eindruck, als habe es
sein Besitzer nur für einen Moment abgestellt und werde sehr
bald wiederkommen. Aber wo war er?
Das war die grundlegende Frage, und sie wurde durch das
überraschend aufgetauchte Auto in keiner Weise beantwortet.
Nadine setzte sich auf einen Baumstumpf an der
Uferböschung und blickte zwischen den Bäumen hindurch auf
das Meer. Es war fast ganz dunkel inzwischen.
In ihr war völlige Ratlosigkeit.
Montag, 8. Oktober
1
Sie hatte in die Abgründe geblickt, und ihr war schwindelig
geworden. Dabei war sie vermutlich nicht einmal in die letzten
Tiefen vorgedrungen. Aber um kurz vor zwei Uhr in der Nacht
hatte Melanie gesagt: »Ich kann nicht mehr. Tut mir leid,
Laura, ich bin völlig erschöpft.«
Da erst hatte sie bemerkt, wie müde sie selber war, und auch,
daß sie seit endlosen Stunden nichts mehr gegessen hatte.
»Ich denke«, sagte sie, »das Wesentliche wissen wir. Ich
habe jetzt einen ungefähren Überblick. Mir gehört praktisch
nichts mehr als die Sachen, die ich auf dem Leib trage.«
Melanie sah sie an. »Ich wünschte, ich könnte irgend etwas
für Sie tun. Es ist eine scheußliche Situation für Sie, und ...«
»Eine scheußliche Situation?« Sie lachte. »Ich würde sagen,
es ist ein Desaster. Ein Desaster von solchem Ausmaß, daß ich
mich einfach frage, wie ich solange absolut nichts davon habe
mitbekommen können!«
»Seine Geschäfte liefen ja alle über das Büro hier, und von
dem hat er Sie völlig ferngehalten. Er hat Sie auf Haus und
Kind reduziert und Sie an nichts mehr teilhaben lassen. Wie
hätten Sie da Lunte riechen sollen?«
»Und ich«, sagte Laura bitter, »habe mich bereitwillig
reduzieren lassen.«
Ein Gespräch kam ihr in den Sinn, das jetzt mehr als zwei
Jahre zurücklag. An einem heißen Abend Anfang Juni war es
gewesen, ganz kurz vor Sophies Geburt. Sie hatten im Garten
gesessen, und Peter hatte plötzlich gesagt: »Wenn jetzt das
Kind da ist, brauchst du dich um die Buchhaltung in der Firma
nicht mehr zu kümmern. Das kann Melanie übernehmen. Ich
stocke ihr Gehalt etwas auf, und dann wird es schon gehen.«
Sie war überrascht gewesen. »Aber wieso denn? Die
Buchhaltung mache ich doch immer von daheim aus, und nicht
mal täglich. Das kann ich mit einem Kind problemlos
fortführen.«
»Ich finde das nicht gut. Du solltest dich wirklich ganz auf
das Kleine konzentrieren. Warum willst du dir zusätzlichen
Streß aufbürden?«
»Ich finde nicht, daß ...«
Er hatte sie unterbrochen. »Vergiß nicht, ich habe bereits ein
Kind. Im Unterschied zu dir weiß ich also, was auf dich
zukommt. Das wird kein Zuckerschlecken. Durchwachte
Nächte, Geschrei, Stillen ... du wirst kaum noch Zeit für dich haben, geschweige denn für die Buchhaltung der Firma.«
Sie hatte das Gefühl, als werde sie von etwas abgeschnitten –
von irgend etwas Lebenswichtigem, oder etwas, das sie mit
dem Leben noch verband. Es war, als krieche eine
eigentümliche Kälte langsam in ihr hoch und hinterließe eine
Spur der Lähmung.
Sie hatte noch einen Vorstoß gemacht. »Ich brauche eine
sinnvolle
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