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Die Täuschung

Die Täuschung

Titel: Die Täuschung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Caleb Carr
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Morgendämmerung fand uns beide in jenem benommenen, tränenreichen Zustand der Erschöpfung vor, der oftmals mit Kummer einhergeht; und dann, bevor einer von uns es richtig bemerkte, geschah etwas sehr Seltsames: Die Sonne schien ins Schiff, hell und klar.
    Das Wasser des Albert-Sees war irgendwie von dem tags zuvor noch überdeutlich sichtbaren Dreck gereinigt worden; und der Anblick war so wundersam, dass sowohl Larissa als auch ich kaum anders konnten, als aufzustehen, an die transparente Hülle zu treten und mehrere Minuten lang staunend zu lächeln. Dann kamen die anderen lärmend hereingestürzt, riefen uns die Neuigkeit zu und fragten – ziemlich einfältig, wie ich mich erinnere, spöttisch bemerkt zu haben –, ob wir gesehen hätten, was passiert sei. Es gab absolut keine rationale Erklärung dafür: Wir hatten während der Nacht keine Maschinengeräusche gehört, und außerdem gab es die erforderliche Technologie für so etwas in ganz Afrika nicht – wahrscheinlich sogar nirgendwo auf der Welt. Es grenzte wirklich an ein Wunder. Aber das war erst der Anfang.
    Nachdem wir den holografischen Projektor eingeschaltet hatten, stiegen wir wieder aus dem Wasser und stellten fest, dass am Westufer des Sees keinerlei Anzeichen eines Konflikts mehr zu sehen waren. Dafür jedoch Tiere: Eben jene wilden Tiere, die, wie ich gelesen und dann auch mit eigenen Augen gesehen hatte, in Afrika ausgerottet waren, liefen überall herum, sodass es in dem Gebiet aussah wie auf dem vergilbten alten Plakat in jener heruntergekommenen Spelunke in Neapel. Uns allen fehlten die Worte, aber diesmal war es nicht unser übliches entsetztes Schweigen an Bord des Schiffes: Diesmal war es ausnahmsweise eine stille Freude, gelegentlich unterbrochen von Gelächter und plötzlichem, erstauntem Jubel.
    Es dauerte eine Weile, bis die Frage aufkam, was wir als Nächstes tun sollten. Ich schlug vor, zur Küste zu fliegen; vielleicht würden wir ja unterwegs irgendwelche Hinweise darauf finden, was vor sich ging. Doch die Reise, die darauf folgte, war noch weitaus verblüffender. Wo noch vor Tagen nur gespenstische, von Krieg und Seuchen hinterlassene Ruinen gewesen waren, sprenkelten nun blühende Dörfer und Städte die Landschaft. Überall gab es wilde Tiere in Hülle und Fülle, und hin und wieder sogar einen Luxusbus voller Touristen. Als wir uns der Küste näherten, wurden die Anzeichen einer blühenden Zivilisation immer dichter und eindrucksvoller, und als wir schließlich das Meer erreichten, sahen wir Sansibar, die verarmte Insel Sansibar, in längst vergangenen Zeiten ein Zentrum des Sklavenhandels und zuletzt ein heruntergekommenes, von Krankheiten heimgesuchtes Relikt dieser schlimmen Vergangenheit.
    Aber jetzt? Was sich jetzt vor uns abzeichnete, sah eher wie Hongkong aus, oder vielmehr so, wie Hongkong aussehen würde, wenn es von Menschen entworfen worden wäre, die nicht nur über Geld, sondern auch über Geschmack verfügten. In der Mitte der landschaftlich wunderschön angelegten Insel erhob sich eine schimmernde Stadt, deren Hochhäuser die Farben des Meeres, des Festlanddschungels und der makellos weißen Korallenstrände von Sansibar betonten. Kurz, es war eine Oase der aufgeklärten Industrie und der Schönheit – und ihre Existenz war unmöglich zu erklären.
    Unser Schiff liegt nun in den Tiefen des Meeres vor dieser Oase. Natürlich haben wir immer noch keine endgültigen Antworten, und die Kommunikations- und Überwachungssysteme des Schiffes sind keine große Hilfe gewesen. Wir haben offenbar Probleme, Satellitenverbindungen aufzubauen und aufrechtzuerhalten, und selbst wenn es uns gelingt, hören wir merkwürdige Berichte aus aller Welt, die so wenig Sinn ergeben wie das, was wir in Ostafrika gesehen haben. Hin und wieder ist die Rede von Konflikten in Weltregionen, in denen es keine geben sollte, viel häufiger aber deuten die Meldungen zu unserem Erstaunen darauf hin, dass in vielen vormals vom Krieg zerrissenen Teilen der Welt nun Frieden und Wohlstand herrschen. All das unterstützt eine scheinbar unmögliche, aber nichtsdestoweniger nahe liegende These: Dass Malcolms Versuch, die Zeit zu besiegen, tatsächlich von Erfolg gekrönt war.
    Wenn das wirklich stimmt, dann muss sich sein Mechanismus nach Erfüllung seiner Aufgabe selbst zerstört haben. Vielleicht ist er sogar speziell dazu konstruiert worden, und deshalb haben wir keine Ahnung, wohin – oder vielmehr in welche Zeit – Malcolm gegangen ist. Die

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