Die Täuschung
Hände an seinen Kopf und brach mit einem erstickten Schrei zusammen. Colonel Slayton war bei ihm, noch ehe ich meine Hilfe anbieten konnte. »Ich … ich glaube, Colonel«, sagte Tressalian mit zusammengebissenen Zähnen, »ich sollte mich lieber ein bisschen ausruhen. Wenn unser Gast mich bitte entschuldigt …« Sein Atem klang mühsam, als Slayton sich einen seiner Arme um den Hals legte und den verkrüppelten Körper hochhob, als wöge er nichts. »Tut mir Leid, Doktor, ich weiß, Sie hätten gern Antworten«, keuchte Tressalian. »Abendessen … wir unterhalten uns beim Abendessen. Bis dahin … denken Sie daran …« Er hob den Kopf und schenkte mir trotz seiner Schmerzen einen Blick, den ich nie vergessen werde: Einen Blick, der genauso verschmitzt war wie der seiner Schwester, in dem gleichzeitig aber auch eine dunkle, schreckliche Eindringlichkeit lag. »Denken Sie daran«, fuhr er fort, »was Sie an der Tür gesehen haben …« Dann trug Colonel Slayton ihn davon.
Tressalians plötzlicher Anfall, die Bilder auf den Monitoren, die sich weiter hinziehende Schlacht draußen und dazu noch die Tatsache, dass ich nun ganz allein war – all das bewirkte, dass meine wachsende Nervosität erste Züge einer aufkeimenden Panik annahm. Ich versuchte mich zu beruhigen, indem ich mich auf Tressalians letzte Worte konzentrierte und meinen Verstand zwang, sich noch mehr in das vor so langer Zeit erlernte Latein zu vertiefen, um eine Lösung für das Rätsel der Inschrift an der Tür zu finden.
Ich weiß nicht, wie lang ich dort stand, Larissa bei der Dezimierung unserer Verfolger zusah und wie ein Idiot vor mich hin murmelte. »Mundus vult decipi« , wiederholte ich immer wieder, während Geschosse um das Schiff zischten. » Mundus , ›die Welt‹, ja. Vult , ›will‹? ›Möchte‹? Irgendwas …«
Und dann erstarrte ich, als plötzlich ein jaulender Alarm durch das Schiff hallte: kein richtig gellender Ton, aber doch durchdringend genug, um mir klar zu machen, dass etwas Wichtiges geschah. Ich suchte den Horizont in allen Richtungen ab, versuchte zu erkennen, was den Alarm ausgelöst haben mochte – und als ich nach vorn schaute, bekam ich meine Antwort: Am Horizont war die weite Fläche des Atlantiks aufgetaucht.
Ich fuhr herum, als eine Stimme – ich erkannte sie, es war die von Julien Fouché – aus den im ganzen Schiff verteilten Lautsprechern ertönte: »Dreißig Sekunden bis zum Systemtransfer … fünfundzwanzig … zwanzig …«
Nichts deutete darauf hin, dass wir langsamer wurden, während wir uns dem Wasser näherten. Fouché fuhr mit seinem Countdown zum »Systemtransfer«, was immer das sein mochte, in Fünf-Sekunden-Intervallen fort; und dann überlief mich ein überraschender, kalter Schauer, als es mir trotz meiner wachsenden Furcht auf einmal gelang, die Inschrift zu übersetzen.
»Mundus vult decipi« , sagte ich laut. »›Die Welt will betrogen sein‹!«
Noch war mir nicht klar, welch potenziell bedrohliche Assoziationen mit diesen Worten verbunden waren, und darum verspürte ich ein Gefühl des Triumphs – das sich jedoch schlagartig wieder in Entsetzen verwandelte, als das Schiff über die Uferlinie hinwegraste und ins offene Meer hinabtauchte.
12
S obald das Schiff sich vollständig unter Wasser befand, leuchtete eine Reihe starker Lampen außen am Rumpf auf, die uns einen ungewöhnlichen Ausblick auf die küstennahen Tiefen des Atlantiks gewährten, als wir uns nun an der Kontinentallinie entlang nach Norden wandten. Was ich dort draußen sah, war jedoch keine idyllische, staunenswerte Unterwasserszenerie, wie ich nach all den Kindermärchen vielleicht hätte erwarten können, sondern vielmehr eine erschreckende Weite braunen Wassers voller menschlicher und tierischer Abfälle, die vom stetigen Pulsschlag der küstennahen Strömungen unaufhörlich umgewälzt, aber nicht abtransportiert wurden. Manchmal konnte man den festhängenden Unrat identifizieren – riesige Bereiche mit medizinischem Müll und den Abfallprodukten der Viehzucht waren besonders verstörend –, aber meistens verschmolz alles zu einer ununterscheidbaren Masse, die mich ungeheuer bedrückte, als ich dort so ganz allein stand und nichts weiter tun konnte, als hinauszuschauen und vor mich hin zu grübeln. Ich wusste natürlich, dass die meisten Länder in den Jahren seit dem finanziellen Zusammenbruch von ’07 Umweltsäuberungsmaßnahmen für unbezahlbaren Luxus gehalten hatten; trotzdem war es schockierend,
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