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Die Täuschung

Die Täuschung

Titel: Die Täuschung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Caleb Carr
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solche Beweise aus erster Hand präsentiert zu bekommen.
    Nach ziemlich langer Zeit, wie es mir schien, wurde ich nicht von Larissa Tressalian (die sich vermutlich zu ihrem von seinem rätselhaften Leiden geplagten Bruder gesellt hatte), sondern von diesem seltsamen kleinen Mann namens Leon Tarbell zu meiner Kabine gebracht. Als Einzigen von der Besatzung kannte ich den »Dokumentenexperten« Tarbell weder vom Sehen noch vom Namen her, was ihn umso interessanter machte; denn er wurde von den anderen unzweifelhaft als Gleichrangiger behandelt und verhielt sich auch so.
    »Gefällt Ihnen das Dekor?«, fragte Tarbell liebenswürdig, als wir die mit Schnitzereien verzierte Holztreppe zum Unterdeck des Schiffes hinuntergingen. Sein Akzent war schwer zu identifizieren, und sein Benehmen war genauso vieldeutig: Einerseits war er ausgesprochen freundlich, andererseits schien ihm meine anhaltende Beklommenheit zu gefallen. Er brachte eine Packung der neuen rauchfreien Zigaretten zum Vorschein und bot mir eine an. Die angeblich ›sicheren‹ Zigaretten waren von der amerikanischen Tabakindustrie kürzlich auf den Markt gebracht worden, nachdem sie eine Generation lang von einigen ostasiatischen Staaten, die sich zusammengeschlossen hatten, unter Druck gesetzt und mit Prozessen überzogen worden war. Ich lehnte sein Angebot ab, und als er sich eine anzündete, sagte er: »Ist nicht so nach meinem Geschmack, dieser Bereich hier. Ich ziehe die Moderne vor. Minimalistisch, athletisch – erotisch.«
    »Manche würden vielleicht einfach nur ›hässlich‹ sagen«, entfuhr es mir, bevor ich mir die Mühe machte zu überlegen, ob Tarbell vielleicht daran Anstoß nehmen könnte.
    Aber er lachte nur. »Stimmt. Sie kann sehr hässlich sein. Aber hässlich« – in seine glühenden Augen trat noch mehr Erregung – »vor Erotik!«
    Ich sollte bald erfahren, dass die ganze Welt für Tarbell in Menschen und Dinge unterteilt war, die nicht »erotisch« waren und jene, die »Erotik!« hatten. Obschon das eine simple Formel war, schien sie ebenso gültig zu sein wie jede andere und – angesichts des fast schon komischen Eifers, mit dem er seine Erklärungen von sich gab – erheblich amüsanter als die meisten; deshalb lachte ich mit ihm und entspannte mich ein wenig, als wir an der Tür zu meinem künftigen Quartier ankamen.
    Jenseits der Tür befand sich eine kleine Kabine, die mich an Bilder von Transatlantikdampfern Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts erinnerte. Die Temperatur lag ein gutes Stück über den sieben Grad draußen auf dem Gang, und die dadurch erzeugte einladende Atmosphäre wurde noch verstärkt durch weitere Holzvertäfelungen, eine kleine, bullaugenförmige transparente Sektion im Rumpf, die per Knopfdruck chemisch getönt werden konnte, hervorragend gearbeitete Lampenschirme aus Glas und sanitäre Einrichtungen aus Marmor und Keramik, bei denen es sich um echte Antiquitäten zu handeln schien. Die Kabine hatte noch weniger Ähnlichkeit mit dem Hightech-Bug des Schiffes als die Gänge, was meiner Verwirrung neue Nahrung gab.
    »Vergangenheit und Zukunft, Seite an Seite«, meinte Tarbell mit einem Nicken. »Man könnte sagen, dass die Zeit an Bord des Schiffes nicht existiert. So ist Malcolm!«
    Das erinnerte mich an meinen Gastgeber. »Geht es ihm gut?«
    Tarbell nickte zuversichtlich. »Sie gehen vorbei, diese Anfälle.«
    »Aber was fehlt ihm denn?«
    »Mir ist nicht ganz wohl dabei, wenn ich über solche Dinge spreche. Vielleicht erzählt er es Ihnen. Oder Larissa.« Tarbell bedachte mich mit seinem dämonischen Grinsen. »Sie hat ein Auge auf Sie geworfen, Sie Glückspilz. Eine Frau von seltener Intelligenz und Schönheit – und Erotik!« Während er das letzte Wort bellte, klopfte er mir mit einer Hand auf die Schulter. »Ja, Sie werden sich unserer kleinen Truppe anschließen, glaube ich!« Bevor er sich zum Gehen wandte, fügte er noch hinzu: »Sie werden alles finden, was Sie brauchen – sogar frische Kleidung. Wir speisen im Bug, in einer halben Stunde. Malcolm hat mir erzählt, dass Sie gern Wodka trinken – kommen Sie bald, dann spendiere ich Ihnen ein Gläschen aus meinem privaten Vorrat!«
    Offenbar wussten diese Leute bereits so gut wie alles über mich, von meiner Konfektionsgröße und dem Kleidungsstil, den ich bevorzugte (in dem Schrank in meiner Kabine war nichts, was mir nicht passte oder was ich nicht getragen hätte), bis zu meinem Geschmack in Bezug auf Alkohol. Ich stellte mir nicht die

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