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Die Täuschung

Die Täuschung

Titel: Die Täuschung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Caleb Carr
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er hört nur auf eine Stimme, die eingebildete kollektive Stimme seiner ermordeten Ahnen.«
    »Und darum«, nahm Malcolm den Gedankengang auf, »hat er die Echtheit der Stalin-Bilder nie angezweifelt.«
    Ich nickte. »Mittlerweile ist Eshkol mit großer Sicherheit paranoid. Er hatte genug Zeit, sich obsessiv mit einer beispiellosen Katastrophe zu beschäftigen, sie mit Ereignissen in seiner eigenen Familie und seinem eigenen Leben zu verknüpfen und zu dem Schluss zu kommen, dass sie immer noch nicht vorbei ist und eine aktive Reaktion von ihm persönlich verlangt. Seine Aktivitäten lassen unzweifelhaft darauf schließen, dass er den Verdacht hegt, die ganze Welt sei an einem Komplott zur Vernichtung der Juden beteiligt; und wie es scheint, sind für ihn nicht einmal die Juden selbst, oder zumindest einige Juden, über jeden Verdacht erhaben. Paranoia erzeugt eine ungeheure Anspannung, die nicht durch Gegenbeweise gelöst werden kann, sondern nur durch den Beweis ihrer Berechtigung. Beim Anblick der Stalin-Bilder hat er genau das gesehen, was er immer sehen wollte – den Beweis, dass er Recht hatte und dass all seine Taten gerechtfertigt waren.«
    Malcolm starrte noch immer zu den Drohnen hinaus. »Mundus vult …« , begann er leise, aber der Ausspruch schien ihm keinen Trost zu spenden, und er lehnte sich schließlich zurück und stieß die Luft in einem langen Atemzug aus. »Guter Gott, Gideon …«
    »Ich sage Ihnen nichts, was Sie nicht schon wussten – oder geahnt haben. Was mir momentan Kopfzerbrechen bereitet, ist die Frage, wie wir überhaupt hoffen können, ihn zu erwischen. Wenn ich Recht habe – wenn er tatsächlich auf keinen lebenden Menschen hört und sich wie ein Phantom durch die heutige Gesellschaft bewegen kann –, womit können wir ihm dann beikommen?«
    Malcolm ballte die Hände zu Fäusten, aber seine Stimme blieb leise. »Mit unseren ganz besonderen Fähigkeiten. Nur wir können es schaffen. Niemand sonst kommt an ihn heran, bevor …«
    Anscheinend wollte Malcolm den Gedanken nicht zu Ende führen; aber da ich absolut sicher sein wollte, dass wir einander wirklich verstanden und die Situation erfasst hatten, sah ich ihn an und sagte: »Bevor?«
    Eine plötzliche hektische Bewegung draußen vor dem Fenster lenkte uns beide ab: Die Drohnen entfernten sich in lockerer Formation von unserem Schiff und flogen dorthin zurück, woher sie gekommen waren. Obwohl ich ungeheuer erleichtert war, verstand ich anfangs nicht, warum sie das taten. Aber dann hörte ich Elis Stimme aus der Lautsprecheranlage:
    »Alles in Ordnung – ich habe die neue Signatur aktiviert, jetzt gibt es nichts mehr, worauf sie sich fixieren können. Wir sollten außer Gefahr sein.«
    Malcolm drehte sich um und drückte auf eine Taste in einem Tastenfeld an seinem Bett. »Gut gemacht, Eli. Julien – nehmen wir wieder Fahrt auf. Ich möchte in spätestens einer Stunde über Frankreich sein.« Malcolm legte die Hände an die Räder seines Rollstuhls und warf mir einen weiteren kritischen Blick zu. »Ich glaube, Gideon, wir beide haben eine recht gute Vorstellung, weshalb wir an Eshkol herankommen müssen, ›bevor‹ – und so fürchterlich es sein mag, ich schlage vor, wir versuchen beide, das auch den anderen klar zu machen.« Er drehte seinen Stuhl herum und steuerte auf die Tür zu. »Schon möglich, dass dieser Mann von lauter Rachefantasien erfüllt ist, wie Sie sagen – aber sie werden mit ihm sterben.«

34
    N achdem wir nun wieder mit Höchstgeschwindigkeit fliegen konnten, erreichten wir den Ärmelkanal, wenn auch nicht Frankreich selbst, innerhalb der von Malcolm dafür veranschlagten Stunde. Unser Abstieg aus der Stratosphäre endete über dem Kanal knapp nördlich von Le Havre, und nachdem wir den holografischen Projektor wieder eingeschaltet hatten, flogen wir in Reiseflughöhe direkt über die Stadt hinweg und folgten dabei der Seine, die sich durch eins der dichtesten Ballungsgebiete der wild wuchernden französischen Vorstadtlandschaft schlängelte. Wie alles Französische waren diese ausgedehnten Vorstädte in ihren Details und dem ganzen Drum und Dran über die Jahre hinweg immer amerikanischer geworden, doch da sie sich durch eine der schönsten und historisch interessantesten Gegenden der Normandie zogen, sahen sie in mancher Hinsicht noch grotesker aus als ihre amerikanischen Gegenstücke. Das Beunruhigendste an der Szenerie war die unheimliche Beleuchtung. In den Vorstadtregionen der Vereinigten Staaten

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