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Die Täuschung

Die Täuschung

Titel: Die Täuschung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Caleb Carr
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Ordnung«, erwiderte ich, »aber nur, wenn Sie dabei Ruhe bewahren.« Er wedelte etwas ungeduldig mit der Hand, ein gutes Zeichen, dass es ihm wirklich besser ging. »Nun«, fuhr ich fort, »die meisten Menschen versuchen, die erste dieser Ängste – den Schrecken der Isolation – durch die Identifizierung mit einer Gruppe zu unterdrücken. Ob es sich dabei um eine religiöse, politische oder ethnische Gruppe handelt, ist im Grunde egal – dieses Prinzip steht sogar hinter den meisten Werbekampagnen, die heutzutage durchgeführt werden, wie auch hinter der populären Kultur selbst. Alles ist recht, sofern es die Mauer der Entfremdung niederzureißen und ein Zugehörigkeitsgefühl zu vermitteln scheint.«
    »Was ungeheure Möglichkeiten zur Manipulation birgt«, murmelte Malcolm und riss die Augen weit auf, um zu zeigen, dass er wusste, wovon er sprach.
    »Und für Manipulatoren«, stimmte ich zu. »Gemeinhin auch Führer genannt. Die meisten von ihnen sind einfach nur Menschen, die ihre Ängste zu lindern trachten, indem sie eine identitätsstiftende Struktur für eine möglichst große Anzahl von Leuten schaffen, die nur eins gemeinsam haben: das Gefühl, vereinzelt und verloren zu sein.«
    »Sprechen wir hier von Eshkols Vorgesetzten?«
    »Auch, aber nicht in erster Linie. Seine israelischen Kommandeure fallen tatsächlich in die Kategorie, über die wir gerade gesprochen haben, jene ganz normale Spielart von Führern, zu der so gut wie jeder gehört, der sich an einer politischen, religiösen, ökonomischen oder kulturellen Bewegung beteiligt. Aber Eshkol? An dem ist nichts normal, und wenn wir verstehen wollen, wie er tickt, müssen wir die ganze Sache auf die nächsthöhere Stufe heben.«
    Malcolm seufzte. »Fanatismus« , sagte er mit demselben Abscheu, den er schon früher gelegentlich gezeigt hatte.
    »Ja. Der normale Führer und seine Anhänger arbeiten sich im Wesentlichen an dem Wunsch ab, ihre Isolation aufzuheben, aber der fanatische Führer und seine Jünger beziehen auch die zweite ursprüngliche Angst mit ein, die Angst vor dem Tod. Und mit Tod meine ich Vernichtung – die völlige, restlose Auslöschung der irdischen Existenz und des Vermächtnisses eines Menschen. Der Führer, der seinen Leuten verspricht, dass die Befolgung seiner Gesetze und Lehren nicht nur die Qualen ihrer Isolation lindern, sondern ihnen auch erlauben wird, dem Tod zu trotzen, durch verdienstvolle Taten eine Art spiritueller Unsterblichkeit zu erlangen. Dieser Führertypus erringt eine weitaus größere Macht als der erste Typus – und erschafft dabei eine ganz andere Sorte von Anhängern. Solch ein Anhänger wird wahrscheinlich die meisten allgemein anerkannten Regeln des sozialen Verhaltens aus dem einfachen Grund missachten, dass für ihn nichts abartig ist außer dem, was der Führer für abartig erklärt. Und die Definition des Abartigen seitens eines solchen Führers ist meist sehr speziell, weil er das Spektrum der möglichen Handlungen, die er seinen Anhängern befehlen kann, nicht einschränken möchte.«
    »In Ordnung«, stimmte Malcolm zu. Er begann, mit den Fingern auf die Armlehnen seines Rollstuhls zu trommeln. »Aber wer ist es dann? Wer ist der Führer, der Eshkol sagt, was er tun soll?«
    »Ich glaube nicht, dass jemand ihm Befehle erteilt, so wie Sie es meinen. Aber er hat Führer – von der schlimmsten Sorte. Sie haben es selbst gesagt, Malcolm, als wir zum ersten Mal von ihm erfahren haben – es sind seine Angehörigen, insbesondere die Opfer, die vor fast hundert Jahren gestorben sind.«
    Malcolm schaute einen Moment lang verwirrt drein. »Aber – sie sind tot. Und sie waren keine Führer.«
    »Nicht auf den ersten Blick«, sagte ich. »Und das macht sie noch gefährlicher. Sie verkörpern alle Tugenden von Eshkols ethnischer und religiöser Herkunft – und da sie schon so lange tot sind, haben sie keinerlei Fehler und Schwächen. Tief in seinem Innern verlangen sie blinde Treue – und Vergeltung nach dem Motto ›Auge um Auge, Zahn um Zahn‹, mit der gleichen Brutalität, mit der man sie umgebracht hat. Sie locken ihn mit weit geöffneten Armen und ewiger Gemeinschaft, falls er dabei ums Leben kommen sollte. Und das Schlimmste ist, die Bösartigkeit, die er personifiziert, die Bösartigkeit, die jedem Fanatismus zu Eigen ist, verbirgt sich hinter der sanften Maske der Liebe, weil sie ihrem Andenken dient. Eshkol ist der einsame Wolf, wie er im Buche steht, und selbst die Israelis wissen das –

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