Die Tage des Gärtners - vom Glück, im Freien zu sein
gewissermaßen auch auf Langstrecken reiten kann. Dort findet sich aber neben jeder Menge nützlicher Hinweise zur Haltung von Laufenten auch ein Satz, der mich sonderbar erfasst hat: »Wie alle anderen Vögel auch wollen sie nicht angefasst werden und mögen es nicht, wenn man ihnen in die Augen schaut.«
Das ist doch ein Satz, der erschaudern lässt. Sind Vögel so? Dass sie die Begegnung scheuen, das Erkanntwerden? Was ist es an den Vögeln, dass sie sich abwenden. Oder was ist es an uns, dass man sich von uns abwendet. Es ist ja das eine, nicht berührt werden zu wollen. Wer will das schon? Aber dass die Vögel es nicht mögen, wenn man ihnen in die Augen schaut, das hat doch etwas Erschreckendes. Denn das ist ja mehr als Rückzug. In dieser Nachricht steckt auch eine Drohung. Was geschieht, wenn man ihn dennoch wagt: den Blick in die Augen der Vögel. Werden sie dann zuschlagen? Zum Angriff übergehen? Wir denken an jenen berühmten Film über die Vögel. Eine kurz geschnittene Szene: ein Mann lehnt blutig zerschunden und tot an der Wand. Seine Augen fehlen. Die Vögel haben sie mitgenommen.
So gesehen ist es ein Glück, dass sich im Garten kaum die Gelegenheit bietet, den Vögeln in die Augen zu sehen. Sie fliegen zumeist davon, bevor es zum Blickkontakt überhaupt kommen kann. Von den Vögeln gibt es im Allgemeinen mehr zu hören als zu sehen. Darum sei allen Gartenfreunden das EXCURSIONENBUCH ZUM STUDIUM DER VOGELSTIMMEN des eingangs bereits erwähnten Prof. Dr. Alwin Voigt empfohlen; besonders schön ist die fünfte Auflage dieses epochalen Werkes, die im Jahr 1909 in Leipzig erschienen ist: Sie unterscheidet sich von der vierten nicht nur durch die Aufnahme vier weiterer Vogelarten, nämlich Strandpieper, Schneeammer, Zipp- und Zaunammer, sondern auch durch eine Vielzahl sehr eindrucksvoller Illustrationen. Die Bilder zeigen Professor Voigt bei der Arbeit. Draußen im Schilf, das Ohr im Wind, den Schreibblock in der Hand, bei seiner Bemühung, dem vieltönenden Klang der Vögel nachzuhören, ihn festzuhalten und zu entwirren. Um dann daheim, umgeben von gelehrten Büchern, die Notizen zu sortieren, zu bewerten und zu kategorisieren. Mit einem Wort: Ordnung zu schaffen, wo vorher keine war.
Professor Voigt ist heute weitgehend, um nicht zu sagen: vollkommen vergessen. Dabei leistete er seinerzeit Bahnbrechendes auf dem schmalen Zweig jener Forschung, der zwischen Musikwissenschaft und Vogelkunde austreibt. Voigt erfand eine neue Systematisierung für die Darstellung von Vogelstimmen. Bis dahin hatte man sie mehr schlecht als recht in der üblichen Notenschrift abzubilden versucht. Aber Professor Voigt fand: »Die Tonstufen der menschlichen Musik sind etwas Gemachtes« – und darum ungeeignet, die Natur abzubilden. Eine Anschauung, die durchaus nicht allgemein geteilt wurde. Und wieder berühren wir das Thema, das eigentlich jeder ernsten Beschäftigung mit dem Garten zugrunde liegt: das Verhältnis von Kultur und Natur. In seinem Werk gibt Voigt dem Vogelfreund hilfreiche Anleitung für die Bestimmung des Gesangs von nicht weniger als 254 Vogelarten.
Es gibt Vögel, die es einem leichtmachen. Die heißen einfach, wie sie rufen: Kuckuck, Pirol, Kiebitz, Krähe oder Fink. Andere Vögel wie die Kohlmeise pfeifen schlichte Terzen, die sich in Notenschrift leicht darstellen lassen. Wenn die Lieder aber kompliziert werden wie jene der Grasmücken, versagt die arme Kunst der Menschen. Voigt entwickelte also eine neue Notierung aus Strichen und Punkten, aufsteigend und fallend, verbunden und nebeneinander. Wir sehen ein Beispiel auf dem folgenden Bild, es zeigt den Gesang des Sprossers, auch polnische Nachtigall genannt.
Der Gärtner erhielt einmal einen Brief, in dem der Schreiber von einem Pärchen Kohlmeisen erzählte, Parus major, das er durch einen kalten Winter gefüttert hatte. Er beobachtete die Meisen während vieler dunkler Tage von seinem Fenster aus und stellte irgendwann freudig fest, dass dem Meisenpaar drei Junge geschlüpft waren.
Im Lexikon heißt es: »Die Meise geht in der Regel eine monogame Saisonehe ein.« Wie viel Zeit könnte man nicht über dem tieferen Sinn eines solchen Satzes zubringen?
Monogame Saisonehe. Darum fasziniert uns ja das Reich der Natur. Aber eines Tages schienen die kleinen Meisen verschwunden. Sorgen ergriffen meinen Brieffreund. Was war den Vögeln widerfahren? Nichts, will man gerade sagen, und liest ungeduldig weiter: Wenige Tage später
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