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Die Tage sind gezählt

Die Tage sind gezählt

Titel: Die Tage sind gezählt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ronald M. Hahn
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mich gelehrt hatten, lautlos zu töten. Ich fühlte mich groß und beinahe allmächtig und schenkte dem Arzt und den Leibwachen nur einen geringschätzigen Blick. Ich war jung damals … aber jetzt, wo ich mich daran erinnere, fällt mir auf, daß es nur ein Jahr her ist, seitdem ich so alt geworden bin.
    Ich war bereit. Ich weiß noch sehr gut, wie ich vor ihm stand, wie ich meinte, dies sei ein Bild, das es wirklich wert sei, für alle Ewigkeiten festgehalten zu werden. Er sah mir genau in die Augen, und ich wußte nicht, daß sie so hart glitzern konnten. Aber nun weiß ich: er hat alles in ihnen gelesen.
    Ich verschloß die Augenklappen meiner Maske und konzentrierte mich. Die Sensation, die daraufhin folgte, war die einer beinahe schleichenden, sexuellen Angst, wie man sie als zwölfjähriger Junge im Dunkeln hat. Dann kam ebenso unerwartet wie heftig der Augenblick, den ich Das-Auge-in-Auge-stehen-mit-mir-selbst nenne, ein Moment unentrinnbarer Wahrheit, den ich nie vollständig begriff und der mich aus mir selbst herausschleuderte. Es war kein schöner Augenblick.
    Ich hatte unmittelbaren Kontakt und raste durch seinen Körper. Der Tumor hatte seine Lungen fast zerquetscht, und ich wußte, daß er starke Schmerzen litt. Ich stellte eine Verbindung zu seinen Zellwucherungen her, verstärkte ihre grausame Pracht, belebte sie, übernahm ihre Informationen, stopfte sie in sein Gehirn – und er war tot. Dann fühlte ich, daß er etwas gewußt haben mußte, aber ich begriff es nicht, weil ich es nicht begreifen wollte. Er hat mich für einen Zweck mißbraucht, den ich nicht verstand, und das störte mich und verursachte mir Schmerz.
    Es degradierte mich zu einem Werkzeug.

    Ich drehte mich um und verhedderte mich mit einem Fuß in dem durchschwitzten Laken, das wie eine zweite Haut an mir klebte. Die Atemgeräusche der beiden anderen machten mich nervös. Mit den Füßen zog ich das Laken nach unten, verhedderte mich erneut, zog es hoch, zu hoch, so daß ich nach fünf Minuten kalte Zehen bekam. Fluchend setzte ich mich auf.
    »Ist was, Drech?« fragte ihre kühle Stimme aus dem Halbdunkel. Im Sitzen versuchte ich meine Füße zu bedecken. Lionnes Kühle ging mir nun seit bereits vier Wochen an die Nerven. Dreißig Tage lang war ich mit Van in einem alten Pontiac herumgefahren, und alles im Negerland ging mir aufs Gehirn. Ich sollte Krebskranke heilen. Und wozu? Ich war erschöpft wie lange nicht mehr. Ab und zu kam über einen dunklen Kanal eine Zeitung an, und was ich darin lesen konnte, lieferte mir mehr Gründe als genug, um weiterzuziehen. Man schrieb, ich sei im Fluß ertrunken, dann wieder, die Neger hätten mich umgebracht (was der Wahrheit recht nahe kam), daß ich aber in jedem Fall tot sei, und daß dies gut so sei. Nur die grimmige Wut über meine verräterische Maske hielt mich zurück, die ich niemals würde abnehmen können. Ich würde für ewig in der Niggerstadt festsitzen, und es würde ewig Arbeit für mich geben: der Krebs war so gegenwärtig, wie es früher die Schwarze Pest war. »Ja, genau das ist es«, schnauzte ich zurück. »Zum Beispiel frage ich mich, warum du, verdammt noch mal, immer so gottverdammt kühl bist?«
    Sie gab keine Antwort, aber Van brummte plötzlich: »Sie kann es sich leider nicht aussuchen, anders zu sein, Bruder. Warum checkst du das nicht endlich mal?«
    »Man hat Gefühle oder hat sie nicht.«
    »Du selbst scheinst doch auch keine großen Probleme mit Gefühlen zu haben«, erwiderte Van finster. »Weshalb, in Gottes Namen, interessierst du dich überhaupt für ihre Gefühle?«
    Ich konnte nur die dunkle Wölbung seiner Decken sehen und stellte mir vor, wie er darunter lag, schwitzend und mit starkem Körpergeruch, wie ein großes, brünstiges Ungeheuer.
    »Es ist schwer, welche zu zeigen, wenn man eure Kranken heilen muß, um sie anschließend an Unterernährung sterben zu sehen«, brummte ich. »Sicher habe ich Gefühle. Was hältst du von Haß?«
    »Das ist keine große Leistung«, sagte er, »Haß.«
    Ich stellte fest, daß sie beide ebenfalls nicht schlafen konnten, und das machte mich noch wütender. Mir wurde klar, daß sie reden wollten, und das machte es noch schlimmer. »O nein«, sagte ich, dem dunklen Koloß seines Körpers zugewandt. »Glaubst du das wirklich? Ihr haßt die Weißnasen nicht, eh? Nun versuche mal, dieses Gefühl auf hundert oder tausend oder meinetwegen auch mehr Einheiten zu steigern, und stopfe das Gefühl mal in deinen Schädel und

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