Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Tage sind gezählt

Die Tage sind gezählt

Titel: Die Tage sind gezählt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ronald M. Hahn
Vom Netzwerk:
es vielleicht tausendmal erzählt, Mann, aber ich konnte einfach nicht genug davon bekommen, es war immer wieder eine ungeheure Sache ! Wenn erfertig war, sagte er: ›Van, mein Junge, es war …‹ und dann starrte er vor sich hin, als sähe er einen Geist. Manchmal träume ich davon, und dann sehe ich die gewaltigen Wolkenkratzer, die wie brennende Finger zum Himmel weisen, wie sie sich krümmen, wie eine riesenhafte Hand, eine schwarze Hand, von der Flammen zucken. Mann, Mann …«
    »Behalte deine Träume für dich«, sagte ich. »Gott, was für ein Unsinn! Außerdem ist das alles längst Vergangenheit, man kann daran nichts mehr ändern. Warum sitzen wir also hier herum und schwätzen. Jesus, laßt uns nun endlich schlafen. Morgen kann ich …« Ich stieß heftig den Atem aus und rieb mit der Hand über meine Maske. »Wenn es dich glücklich macht, dann träume meinetwegen weiter, verflucht noch eins. Sie drehen euch die Luft ab, Van, aber träume du nur von deiner schwarzen Faust, auch wenn sie nie wiederkommt. Von mir aus. Es kommt nichts, nichts mehr!«
    Ich wandte mich ab. Van reagierte überhaupt nicht, und da sich niemand im Zimmer bewegte, klang die Stille unnatürlich. Bis ich sie nicht mehr hörte.

    »Lionne«, sagte ich, »ich gehe fort. Ihr könnte mich jetzt nicht mehr zurückhalten. Meine Arbeit ist getan. Auch wenn hier noch genügend lebende Tote herumlaufen, Lionne, ich gehe. Ich gehe fort, und versuch nicht, mich davon abzuhalten …«
    »Gehst du wirklich fort?« fragte sie, und ich sah ihre kühlen Augen auf mich gerichtet. »Hast du gar keine Angst vor den Bullen?«
    »Nein«, erwiderte ich. »Nein, nein, nein. Die Bullen kann ich wenigstens hassen, aber hier lebe ich in einem Vakuum. Ich fühle bei euch nichts, gar nichts. Und ihr haßt mich auch nicht in Wirklichkeit.«
    »Etwas fühlst du doch«, sagte sie. »Du fühlst dich machtlos.«
    Ich biß auf die Lippen. Meine Gesichtsmuskeln spannten sich. »Ja«, sagte ich zwischen zusammengepreßten Zähnen. »Warum sollte ich sie heilen? Ich schleudere den Krebs aus ihren Eingeweiden, aber es nützt doch alles nichts, weil sie an anderen Dingen sterben, Lionne. Nachts wandern sie wie lebende Skelette durch meine Träume. Verdammt, warum tust du mir das an? Ich könnte es sogar. Ich habe keine Angst mehr vor den Bullen. Alles hat sich geändert. Ich habe auch keine Angst mehr vor dem Tod. Ich will niemanden mehr heilen, denn wie die Sache aussieht, bin ich nur ein Sadist, der den Todeskampf hinauszögert, der mehr Leiden zufügt. Ich sage dir, Lionne, ich …«
    »Mein Mann starb an Krebs«, sagte sie, und zum erstenmal hörte ich eine Emotion in ihrer Stimme, Emotion, die mich verwunderte, die mich zurückweichen ließ. »… mein Mann starb daran. Es ist …«
    Ich nahm zärtlich ihren Kopf in meine Hände, blieb mit gestreckten Armen vor ihr stehen, und sie schaute mich an; schaute mich an, bis mein Atem schneller ging und ich sie so eng an mich preßte, bis ihre Wange meine Maske berührte. Sie schmiegte ihre Haut an meine Maske, und dann küßte ich sie.
    Ihre Hand streichelte behutsam die Verhüllung meines Gesichts. Dann zog sie sie mir mit einer verblüffenden Gemächlichkeit vom Kopf. Sie sah mich an, und der Traum zerspringt in Scherben.

    »Mir reichtʼs jetzt«, sagte ich, während sich meine Blicke stur an der katastrophalen Wegstrecke festsaugten, über die wir mit unserem Pontiac holperten. Wir waren ziemlich weit draußen, weg vom dichtbevölkerten Niggerzentrum, in den Ausläufern von Niggerland. In der Ferne glitzerten die Stacheldrahtverhaue im fahlen Morgenlicht durch die daranhängenden Regentropfen. Der Boden mit dem Minenfeld hatte sich gewellt, war rostfarben, wie ein großer, breitgeklopfter Roboter.

    Verbindung: Es regnete, es hatte den ganzen Tag geregnet und ich hatte frei . Van war auf Patrouillendienst, und den ganzen Tag über lief eine zahnlose Matrone durch das Haus, die ich nicht kannte. Ein Chaperonne für Lionne, dachte ich und grinste über das Wortspiel. Sie saß an einer alten Nähmaschine. Ich durchblätterte ziellos ein paar alte, vergammelte Zeitschriften. Es waren Reliquien, weiße Reliquien, und sie stammten aus der Zeit vor den Krawallen. Mein Magen grollte. Es gab ewig Probleme mit der Nahrung. Es gab nie genug. Als ich durch das ungeputzte, große Fenster blickte, sah ich die ungeputzten, großen Fenster auf der gegenüberliegenden Straßenseite.
    Sie saß gespannt hinter ihrer Maschine. Zumindest

Weitere Kostenlose Bücher