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Die Tage sind gezählt

Die Tage sind gezählt

Titel: Die Tage sind gezählt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ronald M. Hahn
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nahm ich an, daß sie angespannt dort saß. Ihr Profil wirkte scharf und zart, und ich stellte mir vor, wie es wirken würde, wenn sie lachte. Anders, sehr wahrscheinlich.
    Als sie merkte, daß ich sie beobachtete, drehte sie den Kopf. Ich musterte sie intensiv, während ich innerlich fühlte, wie lächerlich es war, daß ich mich von dieser kindischen Sentimentalität treiben ließ. Aber dennoch sagte ich es, ziemlich verwirrt und unkontrolliert: »Lionne …«
    Ich klappte den Mund zu, weil mich meine eigene Stimme erschreckte. Sie sagte nichts, zeigte nicht mal die Spur eines Lächelns, aber sie erweckte den Anschein, als fließe ein Schmerz durch ihren Blick, und der Grund dafür war mein männlicher Trotz. Vielleicht war alles nur Einbildung und sie schaute in Wirklichkeit so nichtssagend wie immer. Vielleicht sollte ich auch über das Zusammenleben von Weißen und Negern nachdenken? Das konnte ich nicht, also schaute ich wieder aus dem Fenster und verfluchte mich im stillen.

    »Ich gehe drauf«, fuhr ich fort. »Jesus, Van, es steht mir bis hierher.« Der Himmel war gesättigt mit Grau, und es gab nur einen Fleck, hinter dem fahl die Sonne schien. Es regnete feine Strähnen. Die Häuser wurden grauer, und der Weg schlechter und schlechter.
    Van zog die Schultern hoch und knurrte: »Tröste dich, heute gehen wir zu jemandem, der wirklich wichtig ist. Einer von unseren Dominanten … Wir haben ihn wirklich gern, Mann. Du würdest vielleicht sagen, daß wir Ehrfurcht vor ihm haben, zumindest wenn du das Wort kennst.«
    Mein Gott, ein Dominant, dachte ich. Ein Dominant, überladen mit Ehrfurcht, und das in dieser Zeit.
    »Jesus«, sagte ich sanft, »ich glaube, ich werde euch nie begreifen. Was habt ihr nur von so einem Leichenbitter? Glaubst du, er wird euch mit Futter aus der Luft versorgen?« Van warf mir einen schnellen, müden Blick zu, wendete dann und fuhr auf ein Haus zu, das besser in Schuß war als die anderen. Es war groß, und es stand sogar ein krummgewachsener Baum daneben.
    »Es geht hier nicht ums Beten, Weißnase«, sagte er kurz angebunden, »sondern um die Kraft, die er uns gibt. Trost und Mut … es steckt in ihm.«
    »Unsinn«, sagte ich. »Weißt du, ich bin in einem Viertel aufgewachsen, das sehr dem glich, in dem du lebst. Aber wir hatten nie Last mit irgendwelchen Dominanten oder solchem Zeug. Wir hatten genug mit anderen Dingen zu tun.«
    Er antwortete nicht, sondern parkte den Wagen schweigend vor dem Baum und legte die Arme über das Steuer. Es war nicht warm, aber er schwitzte stark. Er glich einem Otter.
    »Wir saßen beinahe in demselben Boot«, fuhr ich fort. »Man hat uns zwar nicht direkt boykottiert, aber wir hatten zumindest die Möglichkeit, uns was zu Essen zu kaufen. Und weißt du, was wir versuchten? Wir versuchten, an den unmöglichsten Plätzen etwas anzupflanzen. Wir aßen Ratten und dergleichen. Wir waren Weiße … und wir waren uns nicht zu gut, diese Ratten zu fressen, verstehst du? Im Gegensatz zu euch haben wir keine Zeit vertan. Wäre damals jemand wie ich in unserem Viertel aufgetaucht, einer, den noch niemand gesehen hatte, hätten wir zu ihm gesagt: ›Hör auf mit deinem Heilen und kehr zurück, wenn du uns was zu Essen besorgen kannst.‹«
    Er wandte den Kopf, schaute mich mit seinen glänzenden, großen Augen an. »Du wirst das nie begreifen«, meinte er kurz und verließ abrupt den Wagen. Ich blieb sitzen, lange, sehr, sehr lange, und dann folgte ich ihm.
    Warum tue ich das? dachte ich. Warum sitze ich so auf seinem Kopf? Lionne … verflucht …

    Der Dominant war ein großer, stämmiger Mann, wie man ihn normalerweise selten zu Gesicht bekam, und es war ihm nicht anzusehen, daß er an einem Tumor litt. Ich hingegen fühlte den Schmerz hinter seiner nonchalanten Haltung sehr wohl.
    Er hatte krauses Haar, das über der Stirn wie ein grauer Wall hochstand und sich dann zu seinen Schläfen zurückbog, dicke Lippen und einen schwarzen Schnurrbart, der im Gegensatz zu seinem Haupthaar ziemlich dunkel war. Er hatte die gleichen dunklen Augen, die sie nun einmal alle haben.
    »Freut mich, Ihre Bekanntschaft zu machen«, sagte er, als Van mich vorstellte.
    Ich sah ihn scharf an, bereit, vom Leder zu ziehen, aber war unfähig, auch nur den geringsten Sarkasmus in seiner Stimme zu entdecken. Meine Zunge glitt mit beleidigender Langsamkeit über die Lippen, während ich ihn starr ansah.
    Er lächelte nur und sagte: »Es freut mich, daß Sie mir helfen wollen.« Ich

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