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Die Tage sind gezählt

Die Tage sind gezählt

Titel: Die Tage sind gezählt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ronald M. Hahn
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hatte den Eindruck, daß er ›mein Sohn‹ hinzufügen wollte, aber ich kann mich irren.
    Ich holte tief Atem, nahm auf einem wackligen Stuhl Platz und sah die beiden an. Sie glichen sich, als sei der Dominant Vans älterer Bruder, aber ich wußte, daß das nicht so war. Ich habe nie begreifen können, aus welchem Grund sie so gleichgültig und fatalistisch waren und gleichzeitig so stark. Ich habe ihre Krawalle nicht miterlebt, habe die brennenden schwarzen Fäuste nie gesehen, aber ich begreife nur zu gut, daß ein Volk, das jahrhundertelang in der Unterdrückung lebte, den Mut verliert, wenn es durch einen dummen Zufall – einen Weltkrieg, der zum verkehrten Zeitpunkt ausbricht und mit falschem Ergebnis endet – die Freiheit sich davonschleichen sieht.
    Und die letzte Zeit glaube ich zu verstehen, welch schrecklicher Schlag das für sie gewesen sein muß. Damals begriff ich es noch nicht – oder glaubte, es nicht zu begreifen.
    »Ich will Ihnen gar nicht helfen«, sagte ich dann. »Verdaue das gut, Bruder, ich will dir eigentlich gar nicht helfen.«
    »Warum tust du es dann?« fragte er gelassen.
    »Lassen wir es uns so ausdrücken: Ich wurde moralisch dazu verpflichtet.«
    »Krebs ist heute das, was früher die Pest war«, sagte er. »Befriedigt es dich nicht, die Menschen davon erlösen zu können?«
    »Glaubst du, daß ich bereit bin, dafür diesen Preis zu zahlen?« gab ich zurück, mit einem Finger auf meine Maske zeigend. »Glaubst du, ich will Menschen heilen, damit sie anschließend auf eine andere Art krepieren?«
    Er schüttelte langsam den Kopf. »Sie haben durch dich noch eine Chance«, meinte er sanft. »Sie können weiterleben, können helfen am Aufbau unserer Freiheit.«
    »Gerede!« schnaufte ich. »Die Freiheit kommt niemals mehr!«
    »Ich sehe nur deine Augen und deinen Mund«, erwiderte er, »aber an ihnen sehe ich kleine Linien von Wut und Verdrossenheit. Vor allem deine Augen … verraten dich.«
    »Spar dir deine Binsenweisheiten«, sagte ich bissig. »Laßt uns anfangen, verdammt, laßt uns endlich anfangen, ehe ich die Schnauze restlos voll habe. Ich kann es nicht mehr hören, dieses endlose Geseire!«
    »Du hast dein Gesicht verloren«, sagte er sanft, »aber es gibt Menschen, die haben mehr verloren, ob du das glaubst oder nicht. Es klingt vielleicht wie Gerede, aber es ist so, glaub mir.«
    Mein Herz begann wie rasend zu klopfen, und die sinnlose Frustration, die sich in den zwei Monaten angesammelt hatte, wühlte sich unaufhaltbar der Oberfläche entgegen.
    »Nein«, zischte ich, »es ist schlimm, eine Maske wie diese kann das Leben wertlos machen, wie …«
    »Wie was?« fragte Van plötzlich, indem er sich nach vorn beugte. Und dann blickte ich in seine Augen und wußte, daß er es fühlte, und das machte alles noch viel, viel schlimmer.
    »Wie, wenn du eine gottverdammte Negerin liebst, die kein Wort mit dir redet und durch dich hindurchsieht, als ob …«, schrie ich und erschrak dabei vor meiner eigenen Stimme, wobei ich die letzten Worte verschluckte.
    Aber es war zu spät.
    Er schnappte nach Luft, und der Moment des Verstehens war verschwunden. Er krümmte sich, als würde das Begreifen ihn von den Beinen zerren: eine Weißnase mit einer Negerin.
    Und dann glich er einem Tier, das zum Sprung niederkauerte. Der Dominant sprang dazwischen, wurde aber von Vans starken Armen beiseite geworfen. Er sprang mich an, und ehe ich es richtig begriff, hatte er mich an der Kehle. In Todesangst und Wut griff ich nach ihm. Ich schloß die Augen, entspannte mich und versetzte mich rasend schnell in seinen Körper, wo ich Kontakt mit den Zellen aufnahm. Sie waren gesund, doch ich spie die Vernichtung in sie hinein und schmetterte sie wie einen Feuerball in sein Herz. Er war auf der Stelle tot. Sein Gewicht warf mich gegen den wackligen Stuhl, dann fiel er auf mich.
    Ich schob ihn weg und stand mühsam auf. Seinen Leichnam anstarrend, versuchte ich Mitleid zu fühlen, aber was kam, war nur Verwunderung. Auf jeden Fall war er eher ansprechbar gewesen als seine Schwester. Eine bessere Grabrede konnte ich für ihn nicht halten.
    Ich drehte mich um und sah auf den gefallenen Dominanten. Er lag schweratmend in der Ecke des Raumes, und plötzlich fühlte ich mich, als würde ich dort liegen, als gäbe es keinen Ausgang mehr für mich … Es war nun klar, daß ich aus der Niggerstadt heraus mußte.
    Die klare Situation brachte eine Art Zufriedenheit mit sich. Ich hatte mich unwillkürlich befreit von

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