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Die Tage sind gezählt

Die Tage sind gezählt

Titel: Die Tage sind gezählt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ronald M. Hahn
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viel Zärtlichkeit erforderte.

    Den ersten Monat verlebte Erik wie in einem Rausch. Die süße Lust, die er nach Belieben genießen konnte, trug ihn zu den Grenzen vollkommenen Glücks.
    Und dann folgte die Frustration, plötzlich, fast wie ein im Dunkeln beigebrachter Stoß. Diesmal war es viel bestürzender und tiefer als damals, als er mit Tina beisammengewesen war. Es passierte eines Abends, als er die leidenschaftliche Puppe, jene mit dem roten Haar, wählte. Erik drückte den kleinen Knopf, der unsichtbar unter ihrer Perücke am Hinterkopf angebracht war, und fühlte, wie ihr Körper allmählich der programmierten Hitze näher kam. Er hörte die gurrenden Laute, als er sie liebkoste, und fühlte die vollen Lippen auf den seinen. Dann brach alle Erregung in ihm zusammen und machte einer nie dagewesenen Gleichgültigkeit Platz. Auch jetzt wußte er genau, wie die Sache ausging, und der Gedanke daran ließ ihn erschlaffen.
    Erik schaltete die Puppe aus, legte sie weg und sehnte sich nach einer lebendigen, unvollkommenen Partnerin.
    Der Mensch bleibt immer Mensch , dachte er. Er ist ein lebendes Wesen und braucht ein lebendes Wesen, um mit ihm die tiefste Art der Zuneigung zu erleben. Wir werden es akzeptieren müssen, daß die Vollkommenheit unvollkommen ist, weil ihr die kleinen Abweichungen fehlen, die notwendig sind für die wahre Vollkommenheit.

    Er rief seinen Freund Eberhard an, mit dem er seit ihrer gemeinsamen Studienzeit immer Kontakt gehalten hatte, wenn sie einander auch nicht oft zu Gesicht bekamen. Eberhard lud ihn ein, und bald war Erik bei ihm zu Hause. Schon im Korridor sah er einige ausgeschaltete Sexpuppen stehen. Ein Zeichen, daß auch Eberhard sich der allgemeinen Modeentwicklung angeschlossen hatte. Er hatte die Kunststoffwände mit den wechselnden Lichtspielen (die der Erfinder ›schöpferische Wände‹ nannte) mit einer Verschalung aus rohem Tannenholz überzogen. Es roch so auffallend nach Harz, daß der Duft nur durch Bespritzen des Holzes erzeugt worden sein konnte.
    »Ganz nett, als Abwechslung«, sagte Erik, nachdem er den ersten Schluck genommen hatte. »Ein bißchen roh vielleicht. Man könnte es fast altmodisch nennen, würde es nicht so ungewöhnlich sein, daß es beinahe schon wieder modern ist.«
    Eberhard musterte ihn erstaunt. »Wo hast du die ganze Zeit über gesteckt?« fragte er.
    »Zu Hause. Da war es mir am liebsten. Ich habe mich viel gepaart. Da hat man wenig Bedürfnis, aus dem Haus zu gehen.«
    Nachdenklich nahm Eberhard einen Schluck. »Und jetzt langweilst du dich?« fragte er schließlich mit einer solch nachdrücklichen Ungezwungenheit, daß Erik mißtrauisch wurde.
    »Ja. Woher weißt du das?«
    »Weil es ein Gefühl ist, das nicht nur du hast. Hättest du etwas weniger einsiedlerisch gelebt, würdest du das wissen. Es ist schon einige Zeit im Gange, aber anfangs hat niemand gewagt, sich das einzugestehen. Es gibt sogar schon wieder Leute, die haben angefangen, wieder auf die alte Art Verabredungen zu treffen, auf Parties. Sogar auf der Straße. Der Mensch ist ein merkwürdiges Wesen. Er ist nie zufrieden.« Er schenkte sich und seinem Besucher noch einen Schnaps ein. »Der Normalverbraucher wünscht sich noch immer seine Sexpuppe. Am liebsten ein Modell für jede Saison. Unter den Intellektuellen ist aber schon ein großer Widerstand bemerkbar. Die Intelligenz will zurück zur Natur.«
    »Die Abweichungen der Tonangebenden von heute werden über kurz oder lang immer die Normalgebräuche der Masse von morgen«, sagte Erik mit einem beginnenden Schwips. »In letzter Konsequenz würde das bedeuten, daß langfristig gesehen die Puppenhersteller pleite gehen. Und was dann? Sollen wir wirklich zur Natur zurück?«
    »Sie werden sich schon etwas ausdenken, um diesen Trend zu stoppen«, murmelte Eberhard. Er schenkte wieder ein.
    Als Erik ging, befand er sich im schwerelosen Zustand rücksichtslosen Leichtsinns, der nur durch die fehlerhafte Folge aller möglichen Getränke verursacht werden kann.
    Draußen war Herbst, und der kernige, würzige Duft wirkte mit dem Hauch frischer Kälte einigermaßen ernüchternd. Kaum hatte Erik die Straße betreten, kam ein Mädchen auf ihn zu, das ihn zuerst mit Erstaunen, aber keinesfalls mit Ablehnung betrachtete. Es verzögerte so deutlich seinen Gang, daß es für Erik keinen Zweifel mehr gab. Sie beabsichtigte, sich von ihm ansprechen zu lassen.
    Er mußte rasch einen Entschluß fassen, bevor sie an ihm vorbei war. Sie war

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