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Die Tage sind gezählt

Die Tage sind gezählt

Titel: Die Tage sind gezählt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ronald M. Hahn
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wieder. »Junge Menschen denken immer, es sei eine Frage des Begreifens. Als ich hier zum ersten Mal hereinkam …«
    »Vor sechzig Jahren«, fiel ich ihm ins Wort.
    »… vor sechzig Jahren«, fuhr er fort, »da dachte ich auch, es käme nur darauf an, zu begreifen. Und ich war meiner selbst mindestens so sicher wie Sie. Und in einer Ecke saß so ein altes Männchen. Erst achtete ich nicht so darauf. Auch nicht auf den Anstreicher. Als dann der Mann in Schwarz erschien, lief ich mit ausgestreckter Hand auf ihn zu, genauso, wie Sieʼs gleich tun werden – und wurde rot und fummelte an meinen Ärmeln, weil er keine rechte Hand besaß. Aber inzwischen war ich bereits ins nächste Vorzimmer gelassen worden und dachte, daß ich immerhin ein Stückchen weiter gelangt sei, denn ich wußte ja noch nicht, daß es noch viel mehr Vorzimmer gibt und daß sie im Kreis angelegt wurden. Dann sah ich das alte Männchen in einer Ecke sitzen und fragte mich, wie es so schnell dorthin gekommen sei, denn einen Augenblick vorher war es doch noch im vorigen Vorzimmer gewesen. Und das war der Anfang meines Fehlers, wissen Sie, daß ich mir diese Frage stellte. Das alte Männchen saß in jedem weiteren Vorzimmer in der gleichen Ecke. Aber es kommt nicht so sehr aufs Begreifen an.«
    »Und wie lange hat Ihnen dieses Männchen Gesellschaft geleistet?« fragte ich mit einem süffisanten Grinsen.
    »Ungefähr fünfzig Jahre«, erwiderte er.
    »Und dann?« fragte ich. Mein Lächeln verging.
    »Dann war es nicht mehr da.«
    »Und wo ist es geblieben?«
    »Es war verschwunden«, sagte er. »Und in der Ecke, in der es gesessen hatte, saß ich selbst.«
    »Ich begreife nichts«, erwiderte ich. »Was tat das alte Männchen denn hier? Wollte es sich etwa auch bewerben?«
    »Ja. Als Privatsekretär.«
    »Dann war es wohl auch sehr ausdauernd«, stellte ich fest.
    »Das ist nicht der richtige Ausdruck.«
    Danach schwiegen wir wieder.
    »Es dauert wirklich sehr lange«, sagte ich von Zeit zu Zeit.
    Endlich öffnete sich die Tür, und auf der Schwelle stand ein schwarzgekleideter Mann, auf den ich mit breitem Lächeln und mit ausgestrecktem Arm zuging. Denn dies war die Chance meines Lebens.
    Aber der Mann in Schwarz sah an mir vorbei. Ich bemerkte, daß seine rechte Hand in einem Verband steckte.
    »Verzeihung«, sagte ich. »Ich wollte …«
    »Ein Augenblickchen«, sagte der Mann und wies mit der Linken auf den Raum, aus dem er gerade gekommen war.
    »Ich meine …«, begann ich.
    Aber er hatte die Tür bereits hinter mir geschlossen.
    Je nun , dachte ich, als ich wieder einen klaren Gedanken fassen konnte, jedenfalls bin ich ein kleines Stückchen weiter gekommen.
    »Zumindest einen Schritt«, sagte das alte Männchen. Ich drehte mich um. Tatsächlich, da saß es. Zusammengekauert in einer Ecke, wie ein verwahrlostes und vergessenes Spielzeugäffchen.
    »Das begreife ich nicht«, entfuhr es mir. »Wie kommen Sie so schnell hier herein?«
    »Es kommt nicht aufs Begreifen an«, erwiderte das Männchen.
    Ich setzte mich und schwieg.
    Der Anstreicher kam herein, der gleiche wie vorher, mit Leiter und Farbtopf. Er strich die Wände.
    Als er weg war, sagte das Männchen: »Ein komischer Kerl, dieser Maler.«
    »Wieso?« fragte ich. »Trägt er womöglich das rechte Bein in einem Verband?«
    »Nein«, erwiderte das Männchen, »aber er hat einen sehr langen Zeigefinger. Und damit malt er.«
    Ich zuckte die Achseln. »Seine Sache.«
    »Das Verrückte ist«, fuhr das Männchen fort, »daß er nur die Winkel zwischen der Decke und den Wänden streicht. Als ob er eine Grenze angäbe. Als ich noch so jung war wie Sie, dachte ich manchmal, dieser Maler würde mich in den Wahnsinn treiben. Aber eigentlich ist doch alles ganz normal.«
    »Wie kamen Sie darauf, daß er Sie wahnsinnig machen würde?« wollte ich wissen.
    »Er deutet immer nur an. Mit seinem Finger. Bis dahin – zeigt er – und nicht weiter. Junge Menschen wollen immer weiter, darum denken sie, daß sie wahnsinnig werden, wenn sie Grenzen sehen. So sind junge Menschen nun mal. Aber eigentlich ist doch alles ganz normal.«
    »Sicher«, meinte ich. »Wenn man so geduldig ist wie Sie.«
    »Geduldig«, erwiderte er, »ist nicht das richtige Wort.«
    Wir schwiegen beide.
    Ich hatte plötzlich fürchterliche Kopfschmerzen und wurde das Gefühl nicht los, mein Schädel werde auseinanderspringen.
    »Ich habe Kopfschmerzen«, sagte ich.
    »Das geht vorbei«, versuchte er mich mit einem väterlichen Lächeln

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