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Die Tage sind gezählt

Die Tage sind gezählt

Titel: Die Tage sind gezählt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ronald M. Hahn
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kommen sicher zum ersten Mal?«
    »Sicher«, gab ich zurück. Und ein wenig lauter: »Ich komme, um mich zu bewerben. Als Privatsekretär.«
    Der Mann nickte, und ich fragte mich, um welche Stelle er sich wohl bewarb. Irgendwie sah er wie ein Spielzeugäffchen aus. Ich fragte ihn schließlich.
    »Ich bewerbe mich als Privatsekretär«, erwiderte er.
    »Soso«, kommentierte ich mit einem Lächeln und strich mit der Handfläche über die Knöpfe meines dezenten Zweireihers.
    »Ja«, fuhr er fort, »das überrascht Sie vielleicht, aber als ich das erste Mal hierherkam, war ich genauso jung wie Sie.«
    »Was?« entfuhr es mir. »Als Sie das erste Mal hierherkamen? – Also ich muß schon sagen: Sie geben nicht so leicht auf.«
    »Das ist nicht der richtige Ausdruck«, sagte das Männchen.
    »Aber sicher«, erwiderte ich. »Wenn man schon mal abgewiesen worden ist.«
    »Ich bin nicht abgewiesen worden«, widersprach mir der alte Mann. »Ich bewerbe mich noch immer.«
    »Das begreife ich nicht.«
    »Das ist keine Frage des Begreifens«, sagte er.
    Es entstand eine Stille. Alte Männer geben nun mal gelegentlich solche mysteriösen Sprüche von sich. Man sollte nicht weiter darauf achten.
    Dann fragte er: »Haben Sie den Anstreicher gesehen?«
    »Ja«, erwiderte ich. »Ganz kurz.«
    »Wenn Sie älter werden«, sagte der Mann mit einem Lächeln, »werden Sie ihn besser sehen.«
    »Oh«, sagte ich – ebenfalls mit einem Lächeln. »Ich habe aber nicht die Absicht, so lange hier zu warten.«
    Und wieder entstand eine Stille. Alte Männer haben nun mal das Lächeln jener, die alles besser wissen. Es dürfte das beste sein, nicht darauf zu achten und statt dessen ebenfalls zu lächeln.
    »Das dauert ja ganz schön lange«, durchbrach ich nach einer Weile erneut die Stille.
    »Sie sind noch ungeduldig«, sagte der Mann väterlich, »darum dauertʼs so lange. Aber er wird nun wohl jeden Augenblick kommen.«
    »Wer?« fragte ich.
    »Der Mann in Schwarz«, antwortete das Männchen. »Er hat den rechten Arm in einem Verband.«
    »Oh«, gab ich zurück. »Und wer ist das?«
    »Das sind ʼne ganze Menge«, erklärte er. »Es ist immer wieder ein anderer.«
    »Und alle in Schwarz?« fragte ich mit einem Lächeln. »Und mit dem rechten Arm in einem Verband?«
    »Nein«, erwiderte mein Gegenüber. »Manchmal haben sie einfach einen leeren Ärmel, der in eine Seitentasche gesteckt ist. Oder eine verkrüppelte, eine eiserne oder eine hölzerne rechte Hand.«
    »Ich verstehe Sie nicht. Was sind das für Menschen?«
    »Sie lassen Sie von einem Vorzimmer ins andere«, erwiderte er.
    »Ich muß gestehen, daß ich Sie immer weniger begreife. Wie viele Vorzimmer gibt es denn hier?«
    »Oh«, meinte das Männchen, »zu zählen sind sie schon. Aber sie laufen im Kreis. Und man landet wieder in demselben.«
    »Wie lange sind Sie eigentlich schon hier?« wollte ich wissen.
    »Sechzig Jahre«, erwiderte er, »oder länger.«
    »Sie geben nicht gern auf«, sagte ich lächelnd.
    »Das ist nicht der richtige Ausdruck«, widersprach er.
    Wieder entstand Stille.
    Ich begriff nun überhaupt nichts mehr. Der Mann erinnerte mich immer mehr an ein Spielzeugäffchen, das in einer Spielkiste liegt. Es war wohl das beste, einfach weiterzulächeln.
    »Und was haben alle diese Menschen in Schwarz an ihrem rechten Arm?« fragte ich schließlich.
    »Tja«, erwiderte er, »das ist schwer zu sagen. Aber gleich, wenn die Tür aufgeht, werden Sie es schon selbst merken. Da steht dann so ein offizieller Herr in Schwarz, Sie springen auf, mit breitem Lächeln und ausgestreckter Hand, denn Sie denken natürlich, es sei der Direktor persönlich. Und dann sehen Sie, daß er an Ihnen vorbei sieht, und zu spät bemerken Sie, daß seine rechte Hand in einem Verband steckt. Verstehen Sie? Das hat etwas mit Ihrem dezenten zweireihigen Anzug zu tun. Und Ihren Diplomen.«
    »Nein«, sagte ich, »ich verstehe gar nichts. Was ist denn verkehrt an meinem Anzug?«
    »Nichts«, gab das Männchen zu. »Aber es kommt auch nicht aufs Verstehen an.«
    Und wieder wurde es still. Ich begann ungeduldig zu werden; daß ich so lange warten mußte, schien mir ein schlechtes Vorzeichen zu sein. Außerdem irritierte mich das alte Männchen.
    »Es dauert wirklich lange«, sagte ich.
    »Sie sind noch ungeduldig«, erklärte er mit väterlichem Lächeln.
    »Noch?« fragte ich. »Wieso noch? Das begreife ich nicht. Ich begreife überhaupt nichts mehr.«
    »Das ist keine Frage des Begreifens«, sagte er

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