Die Tarotspielerin: Erster Band der Tarot-Trilogie (German Edition)
der Geburt Aleanders erreichte, hatte ich die ewigen Gelübde abgelegt. Rosalia war bereits mit einem zweiten Sohn – Adrian – schwanger. Um ihren Mann nie in Zweifel über unsere Beziehung zu bringen, behauptete sie stets, ich sei ihr Bruder. Sie schien glücklich, und ich war es auch. Nirgends auf dieser Welt fand ich je Frieden, außer in der Ecke einer Bibliothek mit einem Buch. Das ist meine Natur!«
Sidonia seufzte: »Zu denken, dass Bruder und Schwester ein Kind gezeugt haben könnten, war entsetzlich. Brrr. Wenngleich es erklären würde, warum Aleander eine Missgeburt ist!«
»Er wurde nicht so geboren, mein Kind. Doña Rosalia ist eine wundervolle Frau.«
»Ich weiß, obwohl sie schrecklich streng ist und fanatisch fromm.«
Fadrique lächelte und sattelte sein Reittier. »Sie ist eine Meisterin der Verstellung. Viele von uns mussten diese Kunst lernen, um zu überleben. Du auch – nicht wahr? Du solltest nur damit aufhören, dich selber zu belügen! Dein Herz ist kein Stein.«
»Lass uns weiterreiten«, entgegnete Sidonia schroff.
Noch immer war sie nicht sicher, was von Fadrique zu halten war. Sein Predigerton verärgerte sie, obgleich er weder salbungsvoll noch moralisierend war, vielmehr spöttisch. Er erinnerte sie ein wenig an Gabriel. Schnell schob sie den Gedanken beiseite. Immerhin verlangte es Fadrique nicht danach, in ihre Geheimnisse einzudringen. Vielleicht hatte dieser Vater der Verfolgten in seinem Leben zu viele schreckliche Geheimnisse gehört, um an weiteren interessiert zu sein. Sie schwang sich auf ihr Pferd und gab ihm die Sporen.
Buschwald und sumpfige Niederungen bestimmten die Landschaft der Provinz Leon, durch die es in den nächsten Tagen ging. Sie überquerten den Fluss Tuerto auf einer Pilgerbrücke, versorgten sich in einem Hospital der Antoniter mit Wein und Brot, sodass sie die Bischofsstadt Astorga, die zwischen grünen Hügeln lag, umreiten konnten.
Auf den Resten einer alten Römerstraße ritten sie an rot leuchtenden Lehmdörfern vorbei auf den Rabanalpass zu. Heidekraut, Ginster und Zistrosen leuchteten in der Berglandschaft. Die Luft war kühl und mit Lavendel gewürzt. An einigen Stellen mussten Sidonia und Fadrique absitzen, um die Pferde zu führen.
Sie passierten einen bewaldeten Hang, als Fadrique innehielt, um die Lederriemen seiner Sandalen neu zu binden. »Schau dich nach allen Seiten um, Sidonia, siehst du irgendeinen Menschen?«
Sidonia spähte in jede Richtung. »Nein, niemand. Die Pilger müssen bereits über den Pass sein. Und der Kaufmannstrupp hat mit seinen Pferden im letzten Weiler Rast eingelegt.«
»Dann geht es nach rechts.«
»Aber, der Pass liegt genau vor uns! Ich sehe schon das Gipfelkreuz.«
»Rechts habe ich gesagt.«
Fadrique bestieg rasch sein Reittier und sprengte in den Hang hinein. Nach wenigen Augenblicken war er im Wald verschwunden. Sidonia ritt hinter ihm her. Der Weg ging zunächst bergan, dann führte er in eine zerklüftete Landschaft hinab. Gerade abfallende Steinwände zergliederten eine Talsenke. Tiefe Gänge schnitten sich in Felsen.
Sidonia musste sich ganz auf das Lenken des Pferdes konzentrieren. Sie tauchte in einen Hohlweg ein, der in eine dunkle Schlucht mündete. Eben hatte sie noch das Huftrappeln von Fadriques Pferd vernommen, doch plötzlich herrschte Stille. Sie setzte ab und schaute mit angehaltenem Atem an den Felswänden hoch. Sie schluckten jedes Geräusch. Jedes Geräusch bis auf den heulenden Ruf eines Wolfes, dessen Echo sich zwischen den Steinen fing. Sidonias Pferd tänzelte unruhig. Sie nahm den Zügel straffer.
Wo zum Teufel steckte Fadrique? Sie drehte sich nach allen Seiten. Wieder ertönte das entsetzliche Jaulen. Ihr Pferd stieg hoch und riss sie herum. Sidonia ging zu Boden und schaute ungläubig in die gelben Augen eines Wolfes. Von seinen Lefzen tropfte eine hellrote Flüssigkeit. Es war Blut.
16
»Starr das Tier nicht so an! Es könnte das missverstehen.«
Sidonia hatte sich aufgerappelt und kniete nur wenige Schritte von dem Wolf entfernt auf dem Boden. Sie hob jäh den Kopf, als der Padre hinter einem Baum auftauchte. Er führte sein Pferd hinter sich her.
»Er nimmt an, du willst ihn angreifen«, sagte er gelassen. Sidonias Blick fiel wieder auf den Wolf. Er stieß ein dumpfes Knurren aus und fletschte die Reißzähne.
»Er will mich angreifen«, stieß sie zwischen Panik und Wut hin-und hergerissen hervor.
Mit ruhigen Schritten näherte Fadrique sich dem Wolf von hinten,
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