Die Tarotspielerin: Erster Band der Tarot-Trilogie (German Edition)
streckte die Hand vor und tätschelte das Haupt der Bestie, so wie er es am Eingang zum Tal der Verfolgten bei dem wolfähnlichen Hund getan hatte. Der Wolf wandte sich ab und lief in den Fels hinein.
Sidonia schnappte nach Luft. »Du, du kannst tatsächlich Wunder wirken«, stammelte sie.
Fadrique schüttelte den Kopf. »Was du diesmal für ein Wunder hältst, ist nur ein Gesetz der Natur.«
Sidonia sprang auf die Füße und funkelte den Padre zornig an. »Es ist wider die Natur eines Wolfes, sich streicheln zu lassen!«
»Nicht wenn man ihn in jungen Jahren anfüttert und zähmt! Es ist eine Kunst, die die Leute aus dem Valle d’Immaculata auf das Beste beherrschen. Sie kreuzen auch Wildhunde mit Wölfen, um Menschen auf Distanz zu halten. Der Jakobsweg ist nicht nur ein Weg der Legenden, sondern auch ein Weg der Schauermärchen. Pilger erzählen sich haarsträubende Geschichten von Wölfen oder Heuschrecken, die einen mit Haut und Haaren fressen. Die Furcht vor so genannten Bestien ist den Verfolgten hilfreich. In Wahrheit ist der Mensch des Menschen Wolf, wie ein englischer Gelehrter schreibt.«
»Die Bestie hatte ein blutiges Maul.«
»Sie wurde mit einem Leckerbissen gefüttert. Ein frisch erlegtes Kaninchen, nehme ich an. Die Nase verriet ihr außerdem, dass du zu mir gehörst. Es bestand keinerlei Gefahr.«
Sidonia klopfte den Hals ihres Pferdes, das sich zitternd an sie drängte.
»Es ist in jedem Fall kein Wunder, dass du für einen Ketzer und Zauberer gehalten wirst! Wohin bist du so plötzlich verschwunden?«
Fadrique lächelte. »Wenn ich gewollt hätte, dass du das weißt, wäre ich nicht plötzlich verschwunden. Dies hier sind ehemalige römische Goldminen, die Felsen sind durchzogen von einem Labyrinth aus Gängen. Man muss sich gut auskennen, um sich zurechtzufinden.«
»Kannte Gabriel Zimenes diese Mine?«
Fadrique nickte knapp. »Lass uns rasten und essen. Dort hinten gibt es eine Lichtung.«
Sidonia folgte dem Padre protestierend. »Ich will jetzt nicht essen. Hast du das versteckte Geld entdeckt?«
Fadrique schlang die Zügel seines Pferdes um den Ast einer Steineiche, öffnete die Satteltaschen und zog ein Säckchen getrockneter Früchte hervor. Seelenruhig ließ er sich nieder und begann sie zu verzehren.
Sidonia setzte sich widerstrebend neben ihn. »Hast du etwas entdeckt?«, fragte sie wieder.
»Ja und nein.«
»Was soll das heißen?«
»Dem Himmel sei Dank sind all die Bleikisten mit unseren Büchern und Schriften unversehrt. Es sind Teile einer Bibliothek aus Toledo, griechische Philosophen, arabische Werke über die Himmelskunde, unersetzliche Karten ...«
»Und das Geld?«
»Kein Geld.«
Enttäuscht verzog Sidonia das Gesicht. »Dann haben wir uns getäuscht. Gabriel Zimenes muss es woanders versteckt haben. Es war alles umsonst.«
»Oh, ganz im Gegenteil! Dass ich kein Geld fand, grenzt an etwas, das ich ein wahres Wunder nennen würde oder einen Beweis für die unendliche Liebe Gottes. Allerdings könnte Gabriel Zimenes auch einfach ein noch durchtriebeneres Schlitzohr sein, als ich bisher annahm.«
Sidonia sprang ungeduldig auf. »Was zum Teufel hast du entdeckt?«
»Jemand hat das Geld bereits geholt.«
»Was soll das heißen?«
Fadrique kaute und schluckte, dann nahm er einen tiefen Zug aus der Kürbisflasche.
»Ich fand eine leere Kiste. Daneben die Knochen eines Leckerbissens, der wohl den Wolf besänftigt hat, und die kaum verwischten Spuren eines Mannes!«
»Aber, wer kann das gewesen sein?«
Sidonia blickte sich ängstlich nach allen Seiten um, ihr Herz klopfte wild. »Aleander!«, stieß sie entsetzt hervor.
»Glaubst du, dass ich ihn in einem Atemzug mit einem Wunder nennen würde?«
Sidonia sprang auf. »Ärgere mich nicht immer mit Rätseln, alter Mann. Von wem sprichst du?«
»Von Gabriel Zimenes natürlich. Er weiß, wie wir die Wölfe zähmen! Jeden anderen hätte das Tier sofort angefallen und ...«
»Gabriel Zimenes!« Sidonia schrie den Namen. Ihre Stimme hallte von den Felswänden wider. Sie taumelte. Fadrique riss sie zurück auf den Boden.
»Man kann dich über Meilen hören!«
Sidonia öffnete und schloss ihren Mund, schüttelte den Kopf, schlug die Hände vor ihr Gesicht und schluchzte. Es war ein trockenes Schluchzen, ihr Hals brannte, ein unaushaltbarer Schmerz durchbrannte ihre Brust, züngelte hoch und dehnte sich aus wie ein plötzliches Feuer. Sie wollte schreien. Schreien oder um sich schlagen. Sie atmete so heftig, dass
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